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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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als es so weit war, verlangte er, dass ich anhielt. Er stieg am Kennedy Boulevard aus, den Mund so verkniffen wie ein Zinnsoldat. Von hier musste er viele Häuserblocks weit laufen, und bei seinem Tempo würde er dazu bestimmt vier Stunden brauchen. Mit gesenktem Kopf, die Hand auf dem Rücken, überquerte er die breite Kreuzung. Er ging so langsam, dass die Ampel umsprang und ein getunter Honda, aus dem laute Salsamusik dröhnte, ihn beinahe anfuhr. Ich wendete, parkte in zweiter Reihe und rief: »Komm, steig wieder ein! Du kannst nicht zu Fuß gehen!«
    »Nein. Geh zu ihm! Ich hab genug von deiner Rachsucht. Die ganzen Jahre schon: womit ich mich rumschlagen musste, deine grausamen, gefühllosen Worte, deine Hänseleien, deine Versuche, über mich zu bestimmen, und wofür das alles? Vierzehn Jahre den Rinnstein runter, vierzehn Jahre! Ich dachte, unsere Liebe, unser Band, könnte niemals reißen, aber Mensch, da hab ich mich wohl geirrt.«
    Langsam fuhr ich zurück zu meinen Eltern und widerstand dem Drang, Peter anzurufen, als ich zu Hause ankam. Vielleicht war nun die Zeit gekommen, dem Ganzen ein Ende zu machen. Er hatte ja Inès. Nachts hatte ich Schwierigkeiten zu schlafen. Ich warf mich herum und dachte: »Jetzt fühlt es sich schlimm an, aber jeden Tag wird es ein bisschen besser. Ich werde mich daran gewöhnen. Er auch.« Als ich am nächsten Tag von der Uni nach Hause kam, sah ich, dass Peter meiner Mutter einen weißen Kopfkissenbezug gebracht hatte, gefüllt mit Notizblöcken mit all den Briefen, die er mir geschrieben hatte, dazu Fotos und Mädchenfiguren. »Ich möchte, dass Margaux die bekommt«, hatte er gesagt. Als ich hineinschaute, sackte ich im Wohnzimmer zu Boden, zog die Knie ans Kinn und konnte mich kaum noch bewegen. »Vierzehn Jahre«, war alles, was ich denken konnte. »Vierzehn Jahre.« Fast mein ganzes Leben. Meine Mutter wusste nicht, was sie tun sollte. Sie streichelte mein Gesicht und sagte: »Peter und du, ihr habt euch doch immer mal gestritten. Aber ihr vertragt euch auch wieder.«
    In jener Woche fuhr ich jeden Abend zu Anthony. Ich erzählte ihm, Gretchen hätte mir gekündigt. Er verstand nicht, warum ich so erschüttert war, den Job als Babysitter verloren zu haben, und ich erklärte ihm, es sei nicht nur das, und behauptete, Gretchen und ich seien seit unserer Kindheit beste Freundinnen gewesen. Vier oder fünf Tage lang meldete ich mich nicht bei Peter, dann rief ich ihn von einer Telefonzelle in der Universität an. Zusammengesunken saß ich in einer Ecke der Zelle auf dem Boden, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Ungefähr eine Minute lang atmete er nur ins Telefon. Ich fühlte mich, als wäre ich wieder neun Jahre alt und riefe ihn an, um über »Die Geschichte« zu sprechen. Mit einundzwanzig Jahren fühlte ich mich wie neun. Oder wie acht. Wie sieben. Ich fühlte mich wie ein kleines Mädchen. Am nächsten Tag holte Peter mich wieder zur üblichen Uhrzeit ab, und wir machten uns auf unsere nachmittägliche Spazierfahrt.

30
    Das geliehene Geld
    An meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag im April fuhren wir ins Red Lobster in Wayne. Es war Karaoke-Abend, und Peter stand auf und sang Leroy Brown – er hätte sich vor keinem Lounge-Sänger verstecken müssen –, anschließend wurde er vom Publikum mit lautem Jubel gefeiert. Danach sang er Nights in White Satin und widmete das Lied mir. Als er zurück an unseren Tisch kam, nahm er meine Hand.
    »Zweiundzwanzig«, flüsterte er und drückte sie. »Ich bin so weit von zweiundzwanzig entfernt, das ist kaum zu glauben. Kannst du fassen, wie viel Zeit vergangen ist?«
    Er fuhr fort: »Das Band zwischen uns besteht nun schon seit vierzehn Jahren. Auch wenn es andere versucht haben, sie konnten es nicht zerschneiden. Es war zu stark.«
    Er begann, lautlos zu weinen, die Tränen liefen in die zahllosen Runzeln seines Gesichts. »Du bist so wunderschön, mein Liebes, so wunderschön und erwachsen. Ganz erwachsen.«
    Ich biss in ein inzwischen kaltes Käsebiskuit. Die goldene Beleuchtung im Red Lobster war gedimmt, überall hingen nautische Accessoires, die mich beruhigten. Ich war beschwipst von zwei Piña Coladas, aber nicht betrunken genug, um Karaoke zu singen. Peter war mutig bei solchen Dingen, und zum ersten Mal seit Jahren war ich stolz, in der Öffentlichkeit mit ihm gesehen zu werden.
    »Als ich eben Nights in White Satin gesungen habe, kam ich zu der Zeile über die Wahrheit«, sagte er. »Über die Wahrheit, der

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