Tochter des Glueck
früher wir auf dem Markt sind, desto bessere Preise bekommen wir.« Er wirft mir einen letzten Blick zu, bevor er wieder in seinen Laster steigt. »Geht weiter auf der Straße, nach links. Bald seht ihr eine Bushaltestelle. Der Bus bringt euch nach Kowloon. Von dort aus könnt ihr mit der Fähre auf die Hongkonger Seite der Bucht fahren.«
Als wir das Zentrum von Hongkong erreichen, lassen das rege Treiben im internationalen Hafen, die in leuchtenden Farben gekleideten Frauen, die weißen Gebäude vor den smaragdgrünen Hängen und sogar der offene Himmel alles strahlender, leichter, freier erscheinen. Wir gehen den Hügel hinauf und dann durch die Hollywood Road, vorbei an kleinen Antiquitätenständen, wo selbst jetzt noch alte Kalendermädchenplakate von May und mir im Wind flattern und darauf warten, dass Touristen sie kaufen und mit nach Hause nehmen. Die Inhaberin des Hotels erkennt mich nicht wieder, aber sie nennt uns trotzdem Mays Zimmernummer. Wir steigen ein paar Treppen hinauf, durch einen düsteren Korridor und klopfen an die Tür. Niemand macht auf.
Ich klopfe noch einmal und rufe: »May, ich bin es, Pearl.«
Als die Tür aufgeht, tritt unsere kleine Gruppe fast gleichzeitig einen Schritt zurück. Aber es ist nicht meine Schwester. Es ist Dun.
Ta-ming reagiert als Erster. Er rennt auf ihn zu, kreischt »Baba!« – das hat er bisher noch nie gesagt – und wird von Dun hochgehoben. Dann drängen wir alle nach vorne, schieben Dun zurück ins Zimmer, umarmen ihn, berühren ihn, denn wir können immer noch nicht glauben, dass er da ist. Ich kann eigentlich keine Gefühle mehr in mir haben, und doch sind sie so groß, dass sie grenzenlos scheinen. Ich schließe ihn in die Arme und halte ihn ganz fest, will ihn nie wieder loslassen. Freudentränen steigen mir in die Augen.
»Und wie?«, gelingt es mir schließlich zu fragen.
»Ich hatte alle Papiere, die ich brauchte. Ich habe mich ausgewiesen und angegeben, dass ich nach Hongkong zu einer Familienzusammenführung reisen möchte. Wisst ihr, was sie an der Grenze zu mir gesagt haben? Nun sei es einer weniger, der durchgefüttert werden muss.«
»Und Tao?«, fragt Joy.
Dun lächelt boshaft. »Er war wütend, aber er konnte rein gar nichts tun.« Er wendet sich an Z. G. »Wie gut, dass du auch herausgekommen bist.« Zu Ta-ming, den Dun in Augenhöhe hat, weil er ihn auf dem Arm hält, sagt er: »Ich habe dir etwas mitgebracht. Schau mal.« Und da auf dem Tisch, neben dem Telefon, liegt Ta-mings Geige. »Ich habe alles mitgebracht, auch wenn wir es jetzt nicht brauchen. Aber, Joy, für dich habe ich etwas, das du vielleicht haben möchtest.« Er geht zu einer Ecke und nimmt eine Papprolle zur Hand. »Das ist dein Bild. Sie haben gesagt, für dein bourgeoises Gedankengut gibt es keinen Platz in China.«
Joy nimmt ihm die Rolle ab und schüttelt den Kopf … ungläubig? Verwundert? Dankbar?
»Wo ist May?«, frage ich.
»Sie ist in der amerikanischen Botschaft. Schließlich brauchen wir alle Papiere. Sie dachte, sie fängt gleich einmal damit an. Wirklich beeindruckend, deine Schwester.«
Wir gehen wieder nach draußen, um dort auf May zu warten. Vielleicht hätten wir erst unter die Dusche gehen sollen, denn wir sehen alle zerlumpt und schmutzig aus, wie die ärmsten Flüchtlinge. So wie wir gekleidet sind, wird sie nicht nach uns Ausschau halten, aber keiner von uns will das Treffen verpassen. Wir setzen uns auf die Treppe vor dem Hotel und plaudern fröhlich. Z. G. kann nicht sehr weit sehen, doch ich merke ihm an, wie nervös er ist.
Ich entdecke May als Erste. Sie kommt mit gesenktem Blick den Hügel hinauf, denn sie passt auf, wo sie mit ihren unglaublich hohen Pfennigabsätzen hintritt. Sie trägt ein Kleid mit weitem Rock und einem schmalen Gürtel um die Taille, dazu ein kurzes Jäckchen mit dreiviertellangen Ärmeln aus dem gleichen Stoff. Auf ihrem Kopf sitzt ein ulkiger runder Hut. In ihren rosa behandschuhten Händen trägt sie fröhlich bunte Einkaufstüten.
Ich stehe auf. Die anderen blicken zu mir hoch und dann die Straße hinunter. Sie lassen mich vorausgehen. May hebt den Kopf und sieht mich. Meine Schwester. Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen. Wir laufen aufeinander zu und umarmen uns. Ich möchte ihr so vieles sagen, aber irgendwie gelingt es mir nur, den Arm nach Joy und dem Baby auszustrecken, als sie auf uns zukommen. Ist das ein Wiedersehen mit einer Lieblingstante oder einer Lieblingsmutter? Als Joy meiner Schwester
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