Tochter des Glücks - Roman
wird.«
Sehr überzeugt bin ich nicht von alledem, aber was bleibt mir anderes übrig? Es ist vielleicht keine perfekte Lösung, aber zumindest habe ich jetzt eine Möglichkeit, in China Post zu bekommen: von May an die Soo-Yuen-Wohltätigkeitsorganisation, dann an die Familie von Vater Louie in Wah Hong und schließlich weiter zu mir nach Shanghai. Das Gleiche funktioniert umgekehrt, wenn ich meiner Schwester etwas schicken will. Mir wäre es lieber, May und ich hätten einen Mittelsmann, der mit uns blutsverwandt ist, aber den gibt es nicht. May und ich sind zwar mit allen Bewohnern unseres Heimatdorfs Yin Bo verwandt, doch als wir das Dorf verließen, war ich drei und May noch ein Baby. Meine Mutter ist tot. Was aus meinem Vater geworden ist, haben wir nie erfahren. Ich bin mir sicher, dass er tot ist – ermordet von der Grünen Bande, umgekommen bei den Bombenangriffen auf Shanghai oder getötet von den japanischen Soldaten, nachdem er uns im Stich gelassen hatte. Die Leute in Yin Bo würden sich vielleicht gar nicht an mich, May oder unsere Eltern erinnern. Und selbst wenn, könnte man ihnen vertrauen?
»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«, fragt der Mann vom Familienverband. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass viele Leute nach China zurückkehren. Das ist auch so. Ins Land hineinzukommen ist einfach, aber wieder herauszukommen, ist schwierig. Sie sollten nicht einreisen, wenn Sie keinen Plan haben, wie Sie wieder ausreisen können.«
»Ich bin bereit, in China zu bleiben, bis …«
Er hebt die Hand, um mich zu unterbrechen. »… Sie Ihre Tochter gefunden haben, ich weiß.« Er kratzt sich am Hals und fragt: »Haben Sie einen Plan, wie Sie wieder hinauskommen?«
»Ich habe an nichts weiter als an die Suche nach meiner Tochter gedacht«, gebe ich zu. »Ich kann sie dort nicht allein lassen.«
Er schüttelt den Kopf über meine Verbissenheit. »Wenn es einen Weg aus China hinaus gibt, dann über Kanton. Wenn Sie und Ihre Tochter es nach Kanton schaffen, sind Sie nur zwei von Hunderten, die jeden Tag von dort aus das Land verlassen.«
»Hunderte? Sie sagten, Zehntausende würden nach China zurückkehren.«
»Ebendarauf will ich hinaus. Es ist nicht leicht, auszureisen, aber manchen gelingt es. Manchmal habe ich das Gefühl, die Hälfte dessen, was ich hier tue, besteht darin, Geld zurück in Heimatdörfer zu schicken, damit die Häuser derer instand gehalten werden, die ausgereist sind. Gleich hinter der Grenze liegen ganze Dörfer, die verlassen sind. Geisterdörfer nennen wir sie. Manche Leute lassen ihre Häuser genau so zurück, wie sie am Morgen noch waren – Möbel, Kleidung, Schränke mit Eingemachtem – sodass sie bei ihrer Rückkehr alles genau so vorfinden, wie es vorher war …«
»Wann kann ich abreisen?«, unterbreche ich ihn.
»Wann sind Sie so weit?«
Nachdem wir alles arrangiert haben – und dazu gehört sogar, dass mich jemand am Bahnhof von Kanton abholt und nach Wah Hong bringt –, gibt er mir noch einen letzten Rat. »Die Volksrepublik China ist fast acht Jahre alt. Sie verändert sich ständig. Das Land ist nicht so, wie Sie es in Erinnerung haben oder wie Sie es erwarten, und ganz bestimmt ist es nicht so, wie man es Ihnen in Amerika erzählt hat.«
Nachdem ich in mein Hotel zurückgekehrt bin, bitte ich die Frau an der Rezeption um ein Formular für ein Telegramm. Dann suche ich mir einen Sessel im Foyer und schreibe an May: IN HONGKONG ANGEKOMMEN . MORGEN NACH WAH HONG . SCHICKE AUS SHANGHAI GENAUE ANWEISUNGEN WG . POST .
Am nächsten Tag ziehe ich die Bauernkleidung an, die meine Schwester vor zwanzig Jahren bei unserer Flucht aus China für mich gekauft hat. Ich gehe zum Bahnhof, kaufe eine einfache Fahrkarte für die Kowloon-Kanton-Bahn und steige in den Zug. Wenige Minuten nachdem er sich in Bewegung gesetzt hat, haben wir schon die Stadt verlassen und fahren durch die New Territories, die noch zur Kolonie gehören.
Wie Joy wohl eingereist ist? Was, wenn sie nach China gefahren ist und man sie dort abgewiesen hat? Man hätte sofort gemerkt, dass sie nicht aus Shanghai ist. Wir fanden ihr Chinesisch im Vergleich zu dem der anderen Jugendlichen in Chinatown immer ziemlich gut, aber ihr Akzent … Und ich weiß nicht, wem oder was ich glauben soll – dem Mann vom Familienverband oder das, was ich in Los Angeles über Rotchina gehört habe. Ist Joy schon tot? Was, wenn man sie für eine Spionin hielt? Was, wenn sie in dem Moment getötet wurde, in dem sie einen Fuß auf
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