Tochter des Glücks - Roman
chinesischen Boden gesetzt hat? Das ist meine größte Angst, und mein Herz ist schwarz vor Verzweiflung. Was nützt es, wenn ich ihr folge? Wieder würde jemand sterben – ich selbst. Auch andere Fragen quälen mich: Wenn ich Joy finde, in was für einer körperlichen und emotionalen Verfassung wird sie sein? Wird sie mich überhaupt sehen wollen? Schaffen wir es, unser Verhältnis, das immerhin auf einer Lüge basierte, wieder zu kitten? Wird sie mit mir nach Hause kommen, angenommen, wir finden eine Möglichkeit, das Land zu verlassen?
Die zwanzig Meilen bis zur Grenze – eine Brücke über den Sham-Chun-Fluss – sind schneller zurückgelegt als erwartet. Die Flagge der Volksrepublik China flattert im Wind. Grenzbeamte patrouillieren durch den Zug. Sie überprüfen die Ausweise derer, die geschäftlich in Hongkong zu tun hatten oder Verwandte besucht haben und nun zurückkehren. Es sind viele, und das bestätigt, was mir der Mann vom Familienverband erzählt hat. Hier scheint es ähnlich zuzugehen wie an der Grenze zwischen Kalifornien und Mexiko, die täglich von vielen Menschen aus geschäftlichen Gründen überquert wird.
Als ich dem Grenzbeamten erkläre, dass ich eine heimkehrende Überseechinesin bin, muss ich gemeinsam mit ein paar anderen aus dem Zug steigen. Erinnerungen an unsere Ankunft in Amerika gehen mir durch den Kopf: wie meine Schwester und ich von den anderen Passagieren getrennt und in das Auffanglager auf Angel Island geschickt wurden, wo man uns monatelang befragte. Wird das jetzt auch so ablaufen?
Man führt mich in ein Zimmer. Die Tür wird hinter mir geschlossen und verriegelt. Ich warte, bis ein Inspektor hereinkommt. Er ist ein ganzes Stück kleiner als ich, aber drahtig und zäh.
»Bist du staatenlos?«, fragt er.
Hm … Gute Frage. Ich habe keinen Pass. Ich habe nur einen Identitätsnachweis, der von den Vereinigten Staaten ausgestellt wurde. Ich zeige ihn dem Inspektor, der nicht weiß, was er damit anfangen soll.
»Bist du amerikanische Staatsbürgerin, Genossin?«, fragt er.
Wenn das hier wirklich wie Angel Island ist, muss ich mich genauso verhalten wie May und ich damals – ich muss Verwirrung stiften, um die Bürokratie auszubremsen.
»Ich durfte nicht Staatsbürgerin werden«, antworte ich. »Ich war ihnen nicht gut genug. Sie behandeln die Chinesen sehr schlecht.«
»Was ist der Zweck deiner Rückkehr in die Volksrepublik China?«
»Ich möchte beim Aufbau der Nation helfen«, antworte ich pflichtbewusst.
»Bist du Wissenschaftlerin, Ärztin, Ingenieurin? Kannst du uns helfen, eine Atombombe zu bauen, eine Krankheit zu heilen oder einen Damm zu entwerfen? Besitzt du Flugzeuge, eine Fabrik oder sonstiges Eigentum, das du der Regierung überlassen willst?« Als ich den Kopf schüttle, fragt er: »Was sollen wir dann mit dir anfangen? Wie willst du uns helfen?«
Ich halte die Hände hoch. »Damit will ich helfen.«
»Bist du bereit, die verderbten, stinkenden amerikanischen Ideale aufzugeben, an denen du innerlich festgehalten hast?«
»Auf jeden Fall!«, antworte ich.
»Bist du eine heimkehrende Studentin? In Kanton haben wir eigens für heimkehrende Studenten eine Empfangsstation. Sie sollen dort offen ihre Gründe für ihre Rückkehr nach China, ihre Vorstellung von Ruhm und Profit und alle antikommunistischen Gedanken, die sie womöglich hegen, darlegen.«
»Verzeihung, aber sehe ich aus wie eine Studentin?«
»Du siehst aus wie jemand, der etwas verbirgt. Du kannst mich nicht hinters Licht führen, nur weil du die Kleidung des Volkes trägst.« Sein Stuhl kratzt unheilvoll über den Betonboden, als er aufsteht. »Bleib hier.« Er verlässt den Raum und schließt wieder ab.
Ich bin verwirrt und habe Angst. Der Mann vom Familienverband meinte, das würde einfach sein, aber danach sieht es nun nicht aus. Hat Joy das auch durchgemacht? Hat sie sich für staatenlos erklärt und ihren Pass abgegeben? Hoffentlich nicht.
Die Tür geht auf, und eine Frau kommt herein. »Zieh dich aus.«
Das ist jetzt wirklich viel zu sehr wie Angel Island. Damals gefiel es mir schon nicht, untersucht zu werden, und jetzt möchte ich es auch nicht. Seit der Vergewaltigung habe ich vor jeder Berührung Angst, selbst wenn es jemand ist, den ich liebe oder der mich liebt, sogar bei meiner eigenen Tochter geht es mir so.
»Ich muss noch mehr Leute durchsuchen. Los!«, befiehlt sie.
Ich ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus.
»Ein Büstenhalter ist ein Zeichen für westliche
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