Tochter des Glücks - Roman
zusammengepfercht gewohnt haben – zu siebt in einer Drei-Zimmer-Wohnung –, aber das war geradezu geräumig im Vergleich zu dieser Hütte mit den zwei Zimmern, in der zehn oder mehr Angehörige der Louies leben. Sie erzählen schreckliche Geschichten darüber, was während der sogenannten Befreiung denjenigen Mitgliedern der Familie Louie zustieß, denen das von uns geschickte Geld zugute kam. Man beschimpfte sie als Schoßhunde des Imperialismus, sie wurden geschlagen oder mussten sich auf dem Dorfplatz in Glasscherben knien. Manchen wurde ein noch schlimmeres Schicksal zuteil. Diese Geschichten bestätigen genau das, was ich mir vorgestellt hatte, und sie erfüllen mich mit Schrecken. Doch andere loben den Vorsitzenden Mao und danken ihm für sein Geschenk: Nahrung und Land.
Normalerweise müsste ich nun ein Festmahl ausrichten, aber so lange möchte ich nicht bleiben. Ich nehme Louie Yun zur Seite, gebe ihm etwas Geld und verspreche ihm noch mehr, wenn er sich um meine Briefe kümmert. Ich erkläre, wie es funktioniert, und am Ende sage ich: »Ich will dich nicht anlügen. Es könnte für dich und den Rest der Familie gefährlich werden.«
Ich weiß nicht, ob es Dankbarkeit für Vater Louies Geschenke über all die Jahre, der Wunsch, die Armut zu überwinden, oder Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Gefahr ist, aber er fragt: »Wie viel willst du für diesen Dienst bezahlen?«
»Was verlangst du?«
Wir verhandeln, bis wir uns auf einen fairen Preis einigen – wir wiegen die Gefahren in amerikanischen Dollars auf –, und May wird ihm das Geld jeden Monat schicken. Dann geht es zurück nach Kanton. Man bringt mich zum Hafen. Dort gibt es ein Schiff nach Shanghai, das geht schneller als mit der Bahn und ist billiger als Fliegen. Ich rede mir ein, Louie Yuns Loyalität erkauft zu haben, aber ich habe keinerlei Gewähr dafür, ob es tatsächlich so ist.
Vier Tage später stehe ich morgens auf dem Deck. Shanghai kommt in Sichtweite. Vor einer Woche bin ich in Hongkong aus einem Flugzeug gestiegen und wurde von Gerüchen umgeben, die ich in dieser besonderen Kombination jahrelang nicht mehr gerochen hatte. Während ich nun warte, bis ich von Bord gehen kann, atme ich den Geruch von Zuhause ein – Wasser, das mit Öl und Abwasser vermischt ist, Reis, der auf einem vorüberziehenden Sampan gekocht wird, verrottender Fisch, der auf dem Kai vermodert, Gemüse, das weiter oben am Fluss angebaut wurde und hier in der Hitze und Feuchtigkeit verwelkt. Doch was ich da erblicke, sieht aus wie eine schlechte Zeichnung von Shanghai. Die Gebäude am Bund – die Hongkong und Shanghai Bank, der Shanghai Club, das Cathay Hotel und das Zollhaus – sehen grau aus, vernachlässigt und schäbig. Es hilft nichts, dass an den Fassaden Netze hängen wie Trampoline. Kulis erwarte ich nicht zu sehen. Ist das nicht das Neue China? Doch da sind welche auf der Kaimauer, spärlich bekleidet huschen sie mit schweren Lasten auf dem Rücken hin und her.
Der erste Eindruck dämpft meine Stimmung nicht. Ich bin zu Hause! Ich kann es kaum erwarten, von Bord und durch die Straßen zu gehen. Kurz wünsche ich mir, May wäre auch hier bei mir. Wie oft saßen wir zusammen, plauderten über dieses und jenes Café oder Geschäft und wünschten uns dabei immer, alles wäre noch genauso wie damals, als wir Kalendermädchen waren.
Gemeinsam mit den anderen Fahrgästen werde ich in eine Abfertigungsbaracke geschleust. Ich reiche meinen Identitätsnachweis einem Inspektor, der ihn sich erst prüfend ansieht und dann mich mustert. Ich trage einen Baumwollrock und eine pinkfarbene Bluse, denn es war für mich unvorstellbar, wie eine Landpomeranze gekleidet nach Shanghai zu kommen. Dennoch unterscheide ich mich klar von allen anderen. Dadurch scheine ich besondere Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ein Inspektor durchsucht mein Gepäck, während mir ein anderer Fragen danach stellt, warum ich nach China zurückgekehrt bin, ob ich gewillt bin, meine kapitalistischen Ansichten aufzugeben, und ob ich hier bin, um dem Volk zu dienen. Verglichen mit der Kontrolle an der Grenze dauert das hier nur kurz. Vielleicht erkennen sie an meinem Wu-Dialekt, dass ich wirklich aus Shanghai stamme. Sobald die Befragung beendet ist – ich habe wiederholt gelogen –, holt einer der Männer eine Kamera hervor.
»Wir machen gerne ein Foto von den heimkehrenden Patrioten«, sagt er und winkt mich zu den gerahmten Bildern, die an der Wand hängen.
Rasch gehe ich zu
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