Tochter des Glücks - Roman
weggegangen sind, wiederkehren. Nach Shanghai kommt jeder zurück.«
Vermutlich hat er recht. Z. G.s Vermieterin hat seine Sachen aufbewahrt, bis er wiederkam und sie abholte. In den »Geisterdörfern« hinter der Grenze zu Hongkong, von denen mir der Mann vom Familienverband erzählt hat, lief es wahrscheinlich genauso ab. Aber dass mein Haus und das Zimmer über all die Jahre unberührt blieben? Ich wünschte, May könnte das sehen.
»Du siehst aus, als bräuchtest du etwas Ruhe«, sagt er. »Bestimmt hast du irgendwo dein Gepäck untergestellt. Wenn du so weit bist, begleite ich dich, um es abzuholen. Und mach dir nicht zu viele Sorgen wegen Koch. Er führt sich wie ein Tyrann auf, aber von denen gibt es jetzt viele. Du wirst sehen, im Herzen ist er immer noch einfach nur Koch, der Mann, der dich als kleines Mädchen so gernhatte.« Er lächelt. »Ich weiß das, denn er hat es mir oft erzählt.«
Nachdem der Professor gegangen ist, setze ich mich auf den Bettrand. Um mich herum wirbelt Staub auf. Ich streiche die Tagesdecke glatt und schiebe den Staub mit der Hand zusammen. Dieses Zimmer ist anscheinend nicht mehr sauber gemacht worden, seit May und ich fort sind. Ich stehe auf und gehe zum Wandschrank. Ich erinnere mich an den Tag, an dem mein Schwiegervater dieses Zimmer durchstöberte, auf der Suche nach Kleidern, die May und ich bei der Arbeit in China City tragen sollten. Unsere Kleider im westlichen Stil hat er dagelassen, und sie sind alle immer noch hier, genau wie die Schuhe, Pelze und Hüte.
Mein Blick fällt auf einen hermelingefütterten schwarzen Brokatmantel. Er gehört mir. Mama ließ May und mir die gleichen Mäntel schneidern, doch eigentlich wollte nur ich so einen. Ich hielt meinen für elegant, aber May fand ihren zu trist und behauptete, er lasse sie alt aussehen. (Das war natürlich eine verschleierte Kritik an mir.) May verlor ihren Mantel in dem Winter, in dem sich alles änderte. Ich höre noch, wie Baba May für ihre Vergesslichkeit ausschimpfte und wie er mich anschrie, weil ich keine bessere jie jie war, die ihre kleine Schwester daran erinnern sollte, an ihren Mantel zu denken. May war achtzehn! Warum sollte ich dafür verantwortlich sein, sie zu ermahnen, ihren Mantel nicht auf einer Party oder an der Garderobe eines Clubs zu vergessen? Dann wollte Baba, dass ich May meinen Mantel gab. Meine Schwester hätte den Mantel genommen, obwohl er ihr nicht gefiel, aber ich war etwas größer, und sie mochte es nicht, dass er ihr bis zu den Knöcheln reichte.
Ich schließe die Tür des Wandschranks, wende mich ab und gehe zu unserer Kommode. In den Schubladen finde ich Unterwäsche, Kaschmirpullover, Seidenstrümpfe und Badeanzüge. Ich ziehe ein Nachthemd heraus: hautfarbene Seide, besetzt mit handgearbeiteter Spitze. Eigentlich kann es kaum sein, aber es passt noch. Ich betrachte mein Spiegelbild, umgeben von den Bildern meiner Schwester und mir. Innerlich habe ich mich sehr verändert. Ich bin nicht mehr das Mädchen auf diesen Plakaten, aber ich bin noch so schlank wie damals, und offenbar werde ich meine alten Sachen anziehen können. Wo ich sie allerdings im kommunistischen China jemals tragen soll, kann ich mir nicht vorstellen.
Ich bin erschöpft, aber ich setze mich hin und schreibe zwei Briefe: einen an Louie Yun in Wah Hong mit meiner jetzigen Adresse, und den anderen, den er May schicken soll. Darin steht, dass ich angekommen bin, Joy nicht gefunden habe und in unserem alten Zuhause wohne. Außerdem erkläre ich ihr, wie sie mir Post schicken kann. Dann stehe ich auf und gehe zum Bett. Vorsichtig schlage ich die Tagesdecke zurück und versuche, den Staub in den Falten zu sammeln. Ich strecke mich auf den kühlen Laken aus und werfe einen Blick auf das andere Bett – Mays Bett, bevor ich mich umdrehe. Ich bin hergekommen, um meine Tochter zu suchen, aber ich bin auch vor meiner Schwester weggelaufen. Trotzdem ist May hier bei mir, sie blickt mich freundlich von den Wänden an. Ich schaue ihr in die Augen und sage: Ich bin zu Hause. Ich bin in unserem Zimmer. Kannst du dir das vorstellen? Wir dachten, wir würden diesen Ort hier niemals wiedersehen. Und stell dir vor, May, es ist genau wie früher.
Ich gehe noch mehrmals zur Künstlervereinigung. Selbst nachdem ich der Frau am Empfang Schmiergeld gegeben habe, behauptet sie weiterhin beharrlich, nicht zu wissen, wo Z. G. ist. Schließlich verrät sie mir immerhin, dass die Mitglieder der Vereinigung ihn öffentlich kritisiert
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