Tochter des Glücks - Roman
um den Kopf und knote es im Nacken zusammen. Rasch werfe ich einen Blick in den kleinen Spiegel. Andere hier im Dorf haben mir gesagt, wie ähnlich ich meinem Vater sähe und dass wir viele Angewohnheiten gemeinsam hätten, zum Beispiel, wie ich mir manchmal das Kinn knete, wenn ich nachdenke, oder wie ich fragend die Augenbrauen hebe. Das mag schon sein, aber das bedeutet nicht, dass wir uns ähnlich sind. Wie dem auch sei, zumindest sehe ich jetzt eher wie eine Bäuerin aus als bei meiner Ankunft vor einem Monat.
Ich schiebe die Tür auf und eile durch die Gänge und Höfe zur Küche. Kumei hat bereits den Herd angeschürt, und im Teekessel kocht Wasser. Ich gieße etwas in eine Tasse, nehme sie mit hinaus zum Trog, wo ich am ersten Abend war, putze mir mit dem heißen Wasser die Zähne und wasche mir das Gesicht.
Wie dumm ich doch damals war! Ich fand es spaßig und abenteuerlich, mir mit dem Wasser aus dem Trog das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen, aber danach war mir hundeelend. Die ersten Tage im Gründrachendorf verbrachte ich mit schlimmem Durchfall und Erbrechen. Z. G. hatte wenig Mitleid mit mir.
»Was hast du denn erwartet?«, fragte er. »Wir sind hier in einem Dorf. Diese Leute wechseln wahrscheinlich nur alle drei oder vier Tage das Wasser. Und bestimmt schrubben sie sich auch die Füße und waschen sich unter den Armen damit.«
Da wurde mir gleich wieder schlecht. Meine Vorbehalte gegenüber dem Abortkübel – auch noch in Hörweite von Z. G. – waren völlig verschwunden, nachdem ich wieder ganz gesund war. Aber ich habe daraus gelernt, und ich lerne jeden Tag dazu. Ich weiß jetzt, dass die Schnitzereien mit dem Muster aus Eichhörnchen und Trauben im Wohnraum der vier Schlafzimmer in diesem Teil des Anwesens den Wohlstand symbolisieren, auf den man für zukünftige Generationen hofft. Die Holzgitter vor den Fenstern haben ein Löwenmuster und stehen für den Reichtum des Besitzers. Der Spiegel über dem Haupttor wehrt böse Geister ab, während der getrocknete Fisch an der Wand im vorderen Hof dort hängt, weil yu , das Wort für Fisch, im Chinesischen so klingt wie Überfluss . Die getrockneten Schweinsfüße im vorderen Hof? Die sind zum Essen da. Der Benzingeruch in der ersten Nacht? Mit Benzin entfernen die Leute Flecken von ihrer Kleidung, wenn sie nicht das ganze Stück mit der Hand waschen wollen. Der Baum in der Mitte des Platzes mit den Blüten, die wie Wicken aussehen? Man nennt ihn Pagodenbaum. Seine Blüten sind jetzt zu Früchten geworden, die in langen, gelblichen Schoten wie Perlenketten herabhängen. Und als ich meine Periode bekam, zeigte mir Kumei, was die Frauen im Dorf machen: Sie wickeln Sand in ein Stück Stoff und klemmen es sich in die Unterhose. Das sind nur ein paar der Dinge, die ich gelernt habe.
Ich helfe Kumei, das Essen und das Geschirr in das Esszimmer des Hofhauses zu tragen. Z. G. und Yong, die alte Frau, die auch in dem Hofhaus wohnt, sitzen am Tisch, Ta-ming zwischen ihnen. Yong hat gebundene Füße, die wirklich grausig sind. Sie sind winzig und schauen wie kleine Schokoriegel unter ihrer Hose heraus. Als ich eines Morgens in die Küche kam, hatte sie ein Hosenbein hochgezogen, um sich ihre dünne weiße Wade zu massieren. Hinter dem Knöchel war eine Masse aus zusammengedrücktem Fleisch und Knochen – die Teile ihres Fußes, die nicht durch den speziellen Schuh für gebundene Füße »anmutig« gemacht worden waren. Inzwischen schaue ich absichtlich nicht mehr auf Yongs Füße. Ich glaube, deshalb mag sie mich nicht. Oder sie denkt, ich mag sie nicht. Wie dem auch sei, wir haben uns noch kaum unterhalten.
Das Frühstück heute besteht aus Reisbrei, hart gekochten Eiern, eingelegten Rüben und Teigtaschen aus Reismehl, die mit einer Wasserpflanze von hier grün gefärbt und mit pikantem Gemüse und gepökeltem Schweinefleisch gefüllt sind. Alles ist köstlich, aber ich esse nicht mehr, als mir zusteht. Ich stecke den Löffel in meinen Brei und lausche Kumei und Yong. Die Feinheiten des lokalen Dialekts habe ich mir schon angeeignet und spreche ihn viel besser.
Ich bin froh, dass Z. G. und ich bei Kumei einquartiert wurden. Sie ist zu einer guten Freundin geworden, obwohl wir in vielerlei Hinsicht noch Fremde sind. Woher hat sie ihre Narben? Warum wohnt sie im Hofhaus? Wer war ihr Ehemann? Ich würde ihr diese Fragen nur zu gerne stellen, aber ich möchte nicht neugierig wirken. Doch im Geiste habe ich mir eine Geschichte zurechtgelegt.
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