Tod am Chiemsee (German Edition)
traditionell auch Wanderer und
Reisende. Wer auf Reisen Beifuß bei sich trägt, soll vor allerlei Gefahren
sicher sein. In die Schuhe gelegt oder ans Bein gebunden sorgt er dafür, dass
der Wanderer nicht so schnell müde wird. Von dieser Verwendung leitet sich wohl
auch der Name ab. Als Zauberpflanze dient er zur Reinigung, Heilung und für
magische Rituale. Dazu wird Beifuß unter anderem geräuchert oder zu Kränzen
geflochten. Beifuß ist auch Bestandteil des »Neunerbuschens« oder
»Weihbuschens«, wie er in den ländlichen Gegenden Süddeutschlands noch heute am
15. August, dem Tag von Mariä Himmelfahrt und der Kräuterweihe, gebunden
wird. Der botanische Name »Artemisia« ist abgeleitet von der Göttin Artemis.
Artemis ist die Beschützerin der wilden Tiere und der Gebärenden. Sie ist
zuständig für Heilung und Fruchtbarkeit.
Schwester Jadwiga, die mit bürgerlichem Namen Maria
Heldwang hieß, lehnte sich an die warme Ziegelmauer unter der großen, alten
Klostereiche.
Gerlinde Dissler sollte heute aus München überführt werden. Die
Rechtsmedizin hatte die Leiche freigegeben. Jadwiga hatte mit dem Bestatter die
Formalien besprochen, bevor sie eilends den Friedhofsgärtner bestellt hatte,
der sich auch um den Aushub der Gräber kümmerte. Am liebsten hätte sich die
Priorin geweigert, diese Frau auf dem Gottesacker des Klosters zu beerdigen.
Aber offenbar gab es noch jemanden, der Gerlinde nicht gemocht
hatte, denn die Grabstelle sah aus, als hätte sich dort jemand zu schaffen
gemacht. Die Begonien waren zerdrückt, die kleinen Edelweiß geknickt und die
Einfassung war mit Erde verschmiert.
Wenn sie in Zukunft am Grab vorbeiging, würde sie bei jeder
Gelegenheit Gerlindes hämisches Grinsen sehen, wie damals, als sie von Jadwiga
– zu der Zeit noch Maria – zum ersten Mal Geld für einen Kuss verlangt hatte,
der innig und ehrlich gewesen war. Den Kuss hatte es nur einmal gegeben, doch
Gerlinde verlangte ihr Schweigegeld wieder und wieder, und Jadwiga hatte sich
mehr als einmal gewünscht, sie würde verschwinden.
Und jetzt war sie verschwunden. Für immer.
Dafür tat Jadwiga seither Buße, und doch brachte die Nachricht vom
Tod Gerlindes keine Erlösung. Jadwiga war schuldig; in Gedanken und Worten,
wenn auch nicht in Werken …
Doch irgendwo mussten diese Fotos sein, die imstande waren, zwei
Leben auszulöschen. Ihres und Benediktas.
Sie wollte vertrauen, sie wollte beten und wusste nicht, wie. Denn
der Herrgott macht keine Geschäfte, und was hätte Jadwiga schon anzubieten
gehabt. Ein kleines Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel – sie dachte schon
wie Schwester Althea.
Die Mauer in ihrem Rücken wurde allmählich kühl, vielleicht hatte
ihr Körper die ganze Sonnenwärme aufgesogen. Gerade als Jadwiga sich
entschloss, zurückzugehen, sah sie etwas von einem Ast baumeln. Jemand hatte
ein Kreuz an einem der Äste der Klostereiche befestigt. Es war ein Holzkreuz,
und die Priorin war sicher, dass sie es zuletzt an einem Lederband um den Hals
von Schwester Althea gesehen hatte. Jadwiga wusste, was sich im Innern befand,
aber warum in Gottes Namen hängte Schwester Althea ihre Buße an die Eiche?
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Nelkenwurz (Geum uranum)
Standort: Schattig bis halbschattig, stickstoffreich, feucht.
Wirkungsweise: Blutstillend, krampflösend, schmerzlindernd, örtlich betäubend. Besonders in
Kriegen wurde früher die Pflanze wegen ihrer blutstillenden und antiseptischen
Wirkung oft zur Behandlung von Wunden eingesetzt.
Es war ein zögerliches Klopfen, und Stefan dachte schon,
er hätte der ehemaligen Richterin mit seiner unmissverständlich formulierten
Einladung endlich den Wind aus den Segeln genommen.
Aber es war nicht Friederike Villbrock. Vor Stefan stand ein Mann in
einem grünen Janker und einer hellen Lederhose. Er streckte Stefan eine große
Hand hin. »Ich bin spät«, sagte er, und seine goldbraunen Augen schauten Stefan
entschuldigend an. »Martin Sattler. Ich bin der Fischer, der die Knochen aus
dem See gefischt hat.«
Stefan musste überhaupt nichts tun, er brauchte auch kaum etwas zu
sagen. Auch mal ganz angenehm. Martin Sattler redete, und das tat er ausgiebig.
Der Kriminalkommissar ließ ein Tonband mitlaufen, und als Sattler fertig war,
hatte er die Bestätigung, dass Gerlinde Dissler mit dem Pergament aus dem
Koffer jemanden erpresst hatte.
»Ich hab überlegt … Gerlinde konnte ganz schön ängstlich sein, und
da kam mir der Gedanke, dass sie … etwas aufgehoben haben muss.
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