Vater immer unterlegen. Beide waren Autoritäten, und Rudolf mag ein fähiger Geschäftsführer sein, auch gnadenlos in kaufmännische!, Entscheidungen, als Mensch ist er schwach. Und du hättest ihn bei der Testamentsverlesung sehen sollen! Er hat nichts gesagt, keinen Ton, aber die Wut in seinen Augen war fürchterlich.»
«Das kann ich mir vorstellen. Es passt trotz- dem nicht zusammen. Dietrich ist vor gut zwei Wochen gestorben, da hatte unsere Wanderung noch nicht einmal angefangen. Und vor allem: Da war dieser Mann im hostal, am letzten Freitag erst, der nach Dietrich gefragt hat.»
«Glaubst du etwa, es ist ein Zufall, dass gerade jetzt das große Foto von Camilla und ihrem Sohn fehlt? Er hat es mitgenommen, um die beiden leichter zu finden, das ist doch klar. Er kann nicht mehr wissen als wir. Hoffentlich nicht.»
«Und er kann nicht zu unserer Gruppe gehören. Wie passt er in die Geschichte?»
«Ganz einfach: Es gibt Komplizen. Zwei, vielleicht drei. Was weiß ich? Ich habe mit Mordkomplotts keine Erfahrung. Außerdem blieb nach Dietrichs Tod genug Zeit, nach Deutschland zurückzukehren und als harmloser Tourist mit uns die Reise anzutreten. Dann waren es eben nur zwei. Einer hier in Spanien, einer in unserer Gruppe.»
«Möglich, ja.» Leo versuchte, behutsam zu sein, Ninas Stimme war bei allem Bemühen, leise zu sprechen, immer klirrender geworden. «Aber überleg doch mal. Das ist alles viel zu kompliziert. Wenn man jemand aus dem Weg räumen will, oder wie in diesem Fall gleich zwei, macht man das möglichst unauffällig. Das nehme ich an, ich habe auch noch nie darüber nachgedacht. Beide am Jakobsweg — das fällt doch eher auf, als wenn zweitausend Kilometer dazwischenliegen. Außerdem habt ihr, du und Benedikt, diese Reise sehr kurzfristig gebucht.»
Nina zog die Füße auf den Sessel, umschlang die Beine und legte die Stirn auf die Knie. Sie sah klein und zerbrechlich aus und sehr verzagt.
«Ich weiß das alles.» Sie hob den Kopf und sah Leo an, alle Energie war aus ihrem Gesicht verschwunden. «Ich habe endlose Stunden darüber gegrübelt, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Obwohl ich da noch nichts von Dietrichs Tod wusste, konnte ich unmöglich einfach in Burgos sitzen und nichts tun. Zum Glück ist Ruth bei Benedikt, sonst hätte ich bleiben müssen. Also habe ich beschlossen, einfach den Weg bis nach Santiago mitzugehen und zu schauen, was passiert. Seit ich weiß, dass mein Bruder tot ist und einen Sohn hat, ist alles anders. Verstehst du? Mit Dietrichs Tod hatte Rudolf sein Ziel schon erreicht. Doch nun gibt es Fredo. Ob das Kind alles erbt oder nur einen Teil, ich kenne die rechtliche Lage nicht, ist letztlich egal, es muss für ihn eine Bedrohung sein.»
«Deshalb hast du gesagt, du musst das Kind schützen.»
«Ja. Ich könnte nicht damit leben, wenn ihm - etwas passiert, nur weil ich denke, das alles ist zu abenteuerlich, um real zu sein.»
«Warum bist du nicht zur Polizei gegangen? Du sprichst doch gut Spanisch, du hättest alles erklären können.»
«Zur Polizei?» Nina lachte schrill. «Schon dir fällt es schwer, mir zu glauben. Benedikts Unfall haben sie halbherzig untersucht und als eindeutigen Unfall abgetan. Die hätten mich nur für hysterisch gehalten, eine Touristin mit Mordphantasien. Stell dir das vor:
Die denken doch, ich habe zu viele Gesichten von Märtyrern und verfolgten Templern gelesen oder schlicht einen Sonnenstich.»
Das klang endlich mal logisch. Leo verteilte schwesterlich den Rest des Rotweins auf beide Glaser. Zu dumm, dass sie nur eine Flasche mitgebracht hatte, sie hatte nicht geahnt, was sie erwartete und daß der geplante kurze Besuch zu einer Nachtsitzung würde.
«Ich will dir noch was sagen, Leo, es mag helfen, mich zu verstehen. Etwa eine Woche nach der Testamentseröffnung habe ich mich mit Rudolf getroffen. Da war schon klar, dass ich nicht die dumme kleine Nina bin, die er nach eigenem Belieben manipulieren kann. Nicht mehr. Er ist zwanzig Jahre älter ich, aber wir kennen uns, solange ich denken kann. Wir haben uns gestritten, heftig sogar. Plötzlich wurde er ganz ruhig, sein Gesicht sah aus wie aus Marmor gemeißelt, in seinen Augen stand alter Hass. , hat er gezischt,
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