Tod in der Walpurgisnacht
Wörtern und Phrasen zu verstecken, doch nicht in diesem Fall.
Viele Jahre waren vergangen. Damals war sie noch keine Fachärztin gewesen. Sie hatte eben den Nachtdienst begonnen, es war früher Abend oder vielleicht später Nachmittag und relativ ruhig in der Ambulanz gewesen. Sie trank in aller Ruhe Kaffee, als sie plötzlich im Flur laute und unheilverkündende Stimmen hörte, den Becher abstellte und rausrannte.
Eine Frau war eingeliefert worden, jedoch nicht per Krankenwagen. Veronika erinnerte sich an das fast tuchweiße Gesicht auf der Trage; sie begriff sofort, dass es ernst war, und bat die Schwester, den Bereitschaftsdienst anzurufen. Der alte Elof Tingström, dachte sie und lächelte. Inzwischen war er in Pension. Er kam sofort, um ihr zu helfen. Elof Tingström war kein Mann der großen Worte, hingegen war er außerordentlich geschickt, was Taten anging.
Braunüle legen, Tropf, schmerzstillende Mittel. Ein Anästhesist kam auch dazu. Herz war okay. Sauerstoff weniger gut. Die Frau auf der Trage atmete regelmäßig, aber flach, wahrscheinlich wagte sie keine großen Atemzüge. Stöhnte, jammerte, hatte Bauchschmerzen. Die Blutproben im Schnellverfahren zeigten sehr schlechte Blutwerte. Schwere Anämie, aber keine sichtbaren äußeren Blutungen. Die Patientin war definitiv einem physischen Trauma ausgesetzt.
Sie bestellten Blut von der Blutbank, es musste ein Blutgefäß im Bauch geplatzt sein, murmelte Tingström Veronika zu. Vielleicht das Gefäß zur Milz hin. Sie planten ein Notfall- CT und dann weitere Maßnahmen, je nachdem, was das CT aussagte. Sie wollten sicher sein, welches Blutgefäß beschädigt war und genäht werden musste. Doch erst musste der Kreislauf der Patientin stabilisiert werden.
Dann hörten sie die Stimme. Der Nachbar und Freund, der sie gebracht hatte, hatte den Mund aufgemacht.
»Sie akzeptiert keine Bluttransfusionen«, sagte er entschieden und hielt ihre Hand.
Im Behandlungszimmer kam für einen Moment alles zum Stillstand.
»Sie werden nicht annehmen, dass wir hier stehen und zusehen, wie sie stirbt, wenn wir etwas tun können«, erwiderte Tingström ruhig.
»Es ist gegen Gottes Willen, Blut entgegenzunehmen«, behauptete der Mann in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
Veronika erinnerte sich, dass sie eingriff und Tingströms Worte wiederholte, als ob der Mann taub sei oder schwer von Begriff. Doch der hatte sehr wohl begriffen, was hier geschah.
Sie hatte sich über die Frau auf der Trage gebeugt. »Wir müssen Ihnen Blut geben. Ist das in Ordnung?« Sie hatte jede Regung im Gesicht der Frau wahrgenommen. Im Zimmer war es mucksmäuschenstill, alles konzentrierte sich auf den Willen der Frau. Auf ihre Lippen.
Aber sie schüttelte abweisend den Kopf, und die Lippen formten ein deutliches Nein.
»Wir haben das Blut hier. Wenn wir es Ihnen jetzt geben, wird alles gut werden. Sie haben ein kleines Mädchen, das hier draußen wartet«, sagte Tingström. Aber es blieb bei einem Nein. Ohnmacht breitete sich im Raum aus. Alle wussten, dass es nicht erlaubt war, jemand gegen seinen Willen zu behandeln, es sei denn, der Patient wurde als ernsthaft psychisch gestört betrachtet, doch nichts wies bei dieser Frau darauf hin.
Wegen des Blutverlusts wurde es immer schwieriger, zu der Frau Kontakt aufzunehmen. Es war keine lange Zeit, in der sie in der Ambulanz war, vielleicht zwanzig oder dreißig Minuten, doch es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor.
Hinterher, als alles vorbei war und das Herz der Frau seinen letzten Schlag getan hatte, versammelten sie sich im Personalraum. Elof Tingström fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Veronika konnte immer noch das trockene Geräusch von den Bartstoppeln hören, die im Laufe des Tages gewachsen waren. Ein tonloses Schrappeln, ein Geräusch der Resignation.
»Was soll man da sagen?«, fragte er müde.
Veronika erinnerte sich nicht, ob sie etwas geantwortet hatte. Es gab keine Worte, zumindest keine, die für das reichten, was hier geschehen war.
»Zum Teufel«, antwortete er schließlich sich selbst.
In ihren Augen war eine junge Frau ganz unnötig gestorben. Doch nach Auffassung anderer war sie im Einklang mit Gottes Willen gestorben.
»Gott wird ja wohl auf der Seite des Lebens stehen und nicht auf der des Todes«, spuckte Elof Tingström am Ende noch aus.
Im Nachhinein erkannte Veronika, dass Tingströms Prestigeverlust bedeutend größer war als ihr eigener. Ein alter, erfahrener Mann, der sein ganzes Leben lang Arzt
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