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Todesbraut

Titel: Todesbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Zimmer verlassen haben musste: in Ermangelung einer Tür hatte das Fenster als Ausgang gedient. Vielleicht war es der junge Verfolger gewesen, der sich dann ums Haus herum nach vorn zur Ladentür geschlichen hatte. Doch direkt neben der Heizung, als wäre er als Stufe zum Hinausklettern genutzt worden, stand ein Schulranzen, dunkelblau mit roten Rennwagen darauf. Genau so einen hatte Azads Lehrer beschrieben.
    Wäre Wencke nur einen Augenblick früher losgeprescht, sie hätte den Jungen noch erwischt! Verflucht knapp, der Ärger darüber verlieh Wencke die Kraft, sich aus der Umklammerung zu lösen und wieder in den Laden zu gelangen. Alle riefen durcheinander. Halt und Stopp und kurdische Befehle, die wahrscheinlich dasselbe bedeuteten. Doch Wencke dachte nicht daran, stehen zu bleiben.
    Und Schuhe brauchte sie auch nicht. Die Ladentür stand offen, der Kerl, der sie zuvor in Beschlag genommen hatte, stieg gerade in ein Auto, das abfahrbereit vor dem Laden wartete. Wencke stolperte über die Türschwelle, fing sich notdürftig auf, die Schrammen an den Handflächen brannten, doch ihre Beine hatten sich längst in Bewegung gesetzt und liefen auf das Auto zu. Der Motor heulte und die Räder drehten durch.
    Es gelang Wencke, nach dem Türgriff zu fassen, doch das Auto war von innen verriegelt. Der Blick durch die Scheiben brachte nichts, die Fenster der Rückbank waren getönt. Man erkannte lediglich, dass dort jemand saß, eine Silhouette, die sich gegen die Lehne presste, als der Wagen anfuhr. Wenckes Hand wurde rabiat zurückgeschleudert. Sie rannte los, barfuß über den schmutzigen Gehsteig der Innenstadt, nicht schnellund trotzdem entschlossen. Erst als sie sich vor dem großen Hoteleingang wiederfand, kaum noch Luft bekam und sich der Schmerz nicht entscheiden konnte, ob er an den Händen oder Fußsohlen Alarm schlagen sollte, erst da gab Wencke auf. Das Auto, ein weißer BMW aus den späten Neunzigern, war längst verschwunden.
    Zum Fluchen fehlte Wencke die Puste. Sie setzte sich auf den Rand eines Blumenkübels und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, was nach diesen letzten Minuten nicht ganz leicht war. Woher wusste der Exmann von Shirin Talabani eigentlich, dass sie sich in der Kanzlei aufgehalten hatte, und warum hatte er sie von dort aus verfolgt? Zudem war es absolut seltsam, dass er seine Kinder vor ihr zu verstecken schien. War es Misstrauen oder hatte die Familie etwas zu verbergen? Nun, einen Vorteil hatte es, dass sie und Kutgün Yıldırım in diese merkwürdige Familienversammlung geplatzt waren: Immerhin lag es nahe, dass die Anwältin dann mit der Verfolgung zuvor nichts zu tun haben konnte, sonst hätte sie diese Begegnung wohl eher verhindert. Es musste jemand anderes dahinterstecken.
    Langsam ging Wencke zur Änderungsschneiderei zurück. Der Laden war voll mit Menschen, die jammerten und schimpften, sogar Kutgün Yıldırım begegnete ihr ohne die Spur eines Lächelns. Es war ihr egal, wenn sie sauer waren, Wencke wollte nur ihre Schuhe schnappen und dann verschwinden. Sie war sogar heilfroh, so schnell wie möglich wegzukommen. Verdammt, sie konnte sich auf nichts einen Reim machen. Es war, als würden die anderen auf einer exklusiven Ebene kommunizieren, die für Wencke ganz und gar unzugänglich war. Für einen Moment warf sie sämtliche Political Correctness über Bord und gestand sich ein, dass ihr dies alles fremd, wenn nicht sogar beunruhigend erschien. Klar, sie war Deutsche und das waren Kurden. Sie redeten in einer anderen Sprache, sie hattenandere Werte, sie sangen blumige Lieder über ihre Gefühle. Sie stammten von Kindern ab, die vor einem König mit Schlangenarmen geflüchtet waren.
    Niemals im Leben hatte Wencke sich so deutsch gefühlt. Und dieses Gefühl hatte nichts mit Überlegenheit zu tun, rein gar nichts.
    Sie verabschiedete sich von niemandem, sondern ging mit hochgezogenen Schultern Richtung Maschsee. Es war kurz vor sechs und Emil wollte abgeholt werden.
    Sobald sie außer Sichtweite war, nahm Wencke das Handy aus der Tasche. Zum Glück gab es Menschen, die ihr helfen konnten. Auf die Verlass war, wenn es darauf ankam. Die einem zur Seite standen, auch wenn man sich seit drei Jahren nicht bei ihnen gemeldet hatte.
    Freizeichen.
    Irgendwo in Aurich und Umgebung klingelte nun ein Telefon. Irgendwo in einem Raum der Polizeibehörde, an einem Tatort auf dem flachen Land, in den Dünen einer Insel oder im Privatleben einer kleinen, jungen Familie, irgendwo eben.

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