Todeserklärung
Anteil der Zeit seines engen Lebensfahrplanes beanspruchen könnte. Lisas Erziehung, so sagte er immer wieder, habe ihn Opfer bringen lassen. Jetzt wäre Gelegenheit zu sagen, dass er Lisa zum Opfer gemacht hatte.
Stephan Knobel war seinerzeit zu gern in des Schwiegervaters Haus in die Dahmsfeldstraße und damit in ein reinlich vorgezeichnetes Leben eingezogen; er hatte dem Wunsch des Schwiegervaters entsprochen, das eigene Haus nahe dem seinen und somit ebenfalls in der Dahmsfeldstraße zu errichten. Man lebte hier wie dort, am Sonntag stets das Mittagessen im Hause des Schwiegervaters. Suppe, Braten, Nachspeise, angerichtet von der Hausdame. Danach Kaffee. Danach Spaziergang. Malin, Lisa, Schwiegervater. Und inmitten dieses Ensembles Knobel, im Leben unerfahren und naiv, der zufällig über Marie und plötzlich in das Leben gestolpert war.
»Ich habe recht, Stephan! Sag es! Du weißt es! Du mit deiner bitch!«, höhnte der Schwiegervater.
»Okay, mach es! Turn dich mit ihr aus! Aber dann«, der Schwiegervater kippte den restlichen Grand Cru aus seinem Glas in sich und den Rest der Flasche in das Glas hinein, »dann bist du wieder normal! Bist Mensch! So wie wir sind! Ist sie überhaupt was? Beruflich, meine ich?«, fragte der Schwiegervater.
»Studentin«, antwortete Knobel folgsam.
»Studentin.«
Er grinste, schwenkte das Glas und prostete Knobel zu.
»Eine Studentin ist doch nichts fürs Leben! Herrgott, Stephan, in welchen Kategorien denkst du denn?«
»Du weißt, dass Lisa und ich Studenten waren, als wir damals zusammenkamen«, meinte Knobel.
»Ja, ja, aber ihr hattet die Zukunft direkt vor euch.«
»Nein, wir hatten sie nie. Wir wussten es beide nur nicht.«
»Im Leben muss man Weichen stellen!«, wusste der Schwiegervater. »Manchmal passen Schwanz und Leben nicht zusammen«, fuhr er fort, »da muss man Entscheidungen treffen! Weichen stellen, wie ich sage! Es gibt auch zweigleisige Strecken … Du verstehst mich?«
Knobel erhob sich.
»Ich bestelle mir ein Taxi, Vater .« Und jetzt hatte er das Wort bewusst benutzt, und sein Schwiegervater hatte es als Drohung verstanden.
»Wir verstehen jeden Spaß, Stephan, ich sagte es gerade. – Aber wer ausbricht, ist Verräter!«
»Lisa kommt in deinen Worten nicht vor«, entgegnete Knobel.
»Wir auf der einen Seite, der Verräter auf der anderen Seite. Damit sind die Fronten klar, und es ist alles gesagt.«
Des Schwiegervaters Miene verzerrte sich und geriet zur Fratze.
»Ich finde allein hinaus«, sagte Knobel und sein Schwiegervater reimte nach: »… aus ehemals deinem Haus.«
Der Schwiegervater wollte die Tür hinter Knobel zuwerfen, aber dann hielt er inne und rief ihm hinterher.
»Stephan?«
Knobel drehte sich um, sein Schwiegervater stand kerzengerade in der Tür, mit soldatischer Haltung wie bei einem Plädoyer vor Gericht, die Hände vor der Brust verschränkt.
»Ich habe dir alles gegeben, Stephan, aber ich werde dir alles wieder nehmen!«
Dann flog die Tür ins Schloss. Draußen bestellte Knobel von seinem Handy aus ein Taxi. Er fuhr zurück in die Varziner Straße. Die zweite Nacht in einer fremden Wohnung. Die zweite Nacht ohne gewechselte Kleidung. Er schlief ein, küsste in Gedanken Marie und betrauerte Lisa. Er hätte ihr gerne seine Wahrheit erzählt.
13
10.30 Uhr am nächsten Morgen: Postbesprechung in der Kanzlei Dr. Hübenthal & Knobel , auf diesen Zeitpunkt verschoben, weil Knobel einen angeblichen Arzttermin am frühen Morgen vorgeschwindelt, die Zeit jedoch in Wirklichkeit dafür benötigt hatte, in der Innenstadt schnell einen Anzug, Hemd, Krawatte und neue Schuhe zu kaufen, nachdem er aus der Dahmsfeldstraße nichts, nicht einmal seine Kleidung mitgenommen hatte.
Nun saß er im schwarzen Anzug, mit blauem Hemd und silberfarbener Krawatte am Konferenztisch in Zimmer 101. Die neuen Schuhe drückten noch etwas. Vor Dr. Hübenthal lagen die Kanzleiposteingänge des Tages, die er routiniert den Sozien zuordnete mit dem Ergebnis, dass Löffke einmal mehr als Postkönig feststand. Gewöhnlich strebte man nach diesem Ritual auseinander, um die Posteingänge durch die Mitarbeiterinnen den Akten zuordnen und sie mit den Akten zur Bearbeitung vorlegen zu lassen. Doch heute bat Dr. Hübenthal darum, noch in seinem Büro zu bleiben. Das kunstvolle Beriechen einer Zigarre verhieß eine längere Sitzung.
»Wir schließen direkt eine Sozietätsbesprechung an«, verkündete der Senior, »es ist bei uns ja nicht wie in anderen
Weitere Kostenlose Bücher