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Todesreigen

Titel: Todesreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Massachusetts wochentags jeden Abend – und jeden Abend ging ihr auf diesem Abschnitt der Route 28 derselbe Gedanke durch den Kopf: sinnliche Kurven.
    Wie dieses klischeehafte Verkehrszeichen, das sie zwei Meilen zuvor passiert hatte:
Weiche Randzone
.
    An vielen Abenden, wenn sie leicht betrunken Michael Bolton im Radio lauschte, hatte sie über diese Worte auf der gelben Raute lachen müssen. Heute war ihre Stimmung düster.
    Carolyn nahm den nur mit einem Strumpf bekleideten Fuß langsam vom Gas. Ihre weißen hochhackigen FerragamoSchuhe lagen auf dem Beifahrersitz. (Sie fuhr oft ohne Schuhe, nicht weil sie damit mehr Kontrolle über den Wagen hatte, sondern um die Sohlen nicht abzunutzen.) Dann steuerte sie den Wagen durch die letzte, ja, sinnliche Kurve, die ins winzige Städtchen Dunning führte.
    Die Tankstelle, ein Gemischtwarengeschäft, eine Propangas-Firma, ein altes Motel, ein Schnapsladen und ein Antiquitätenmarkt, in dem sie – in all den fünf Jahren, die sie nun zum Krankenhaus pendelte – noch nie jemanden hatte einkaufen sehen.
    An dem verrosteten Mähdrescher bremste sie bis auf Tempo fünfzig ab, denn dort lauerten die eifrigen jungen Polizisten von Dunning auf Raser und setzten jedem zu, der einen ansehnlicheren Wagen als einen Buick fuhr. Jeden Abend auf dem Heimweg von der Arbeit hielt sie hier an, um zu tanken und einen großen Kaffee zu trinken, doch der Tankwart schien nicht zu registrieren, dass sie Stammkundin war.
    Als sie aus dem Wagen stieg, bemerkte sie einen anderen Kunden, einen Mann mit grobem Gesicht und einem Schatten von Bartstoppeln. Er stand an sein Auto gelehnt und sprach in ein Handy. Er nickte unglücklich; mit wem auch immer er sprechen mochte, die Person am anderen Ende hatte offenbar schlechte Nachrichten für ihn.
    Carolyn beugte sich vor, schob den Zapfhahn in die Tanköffnung und ließ den Bügel einrasten. Als sie sich wieder aufrichtete, fröstelte sie. Sie trug ihr tief ausgeschnittenes, beigefarbenes Evan-Picone-Kostüm, ohne Bluse, mit einem kurzen Rock. Mit einiger Befriedigung registrierte sie, wie der andere Kunde vom Asphalt aufblickte und sie von oben bis unten mit seinen Blicken abtastete. Auch wenn er durch sein kantiges Gesicht und die fleischigen Hände irgendwie grobschlächtig wirkte, war er doch gut angezogen. Er trug einen weichen grauen Anzug und einen dunklen Trenchcoat mit vielen Riegeln und Klappen und fuhr einen goldbraunen Lincoln. Sie schätzte, dass er etwa so teuer war wie ihr eigener Wagen. Sie mochte Männer mit teuren Autos.
    Der Zapfhahn stoppte mit einem Klicken, und sie ging in den Laden, um zu bezahlen.
    Eine Tasse schwarzen Kaffee und eine Rolle Pfefferminzbonbons. Ohne das geringste Anzeichen des Wiedererkennens schaute der junge Verkäufer gerade so lange von seinem tragbaren Fernseher hoch, wie er brauchte, um einen Blick auf ihre Brüste zu werfen und ihr das Wechselgeld herauszugeben; vielleicht war es ja nur ihr Gesicht, an das er sich nicht erinnerte.
    Sie trat ins Freie und beobachtete, wie der Mann mit dem Lincoln sein Handy auf den Rücksitz warf und auf der Suche nach Geld in seine Tasche griff. Wieder musterte er sie.
    Dann schien er zu erstarren. Sein Blick fokussierte einen Punkt unmittelbar neben ihr.
    Im nächsten Augenblick spürte sie den Arm, der sich um ihre Hüfte legte, und das kalte Metall an ihrem Ohr.
    »Oh Gott…«
    »Nur die Ruhe, Lady!«, stotterte ihr die Stimme eines jungen Mannes ins Ohr. Er war offensichtlich nervös und roch nach Whisky. »Wir nehmen deinen Wagen und fahren los. Wenn du schreist, bist du tot.«
    Carolyn war noch nie überfallen worden. Sie hatte in Chicago und New York gelebt, kurz auch in Paris. Doch bei dem einzigen Mal, als sie körperlich bedroht worden war, war der Angreifer kein Ganove gewesen, sondern die Ehefrau eines Mannes, dessen Wohnung am linken Seineufer auf demselben Flur wie ihre eigene gelegen hatte. Jetzt war sie vor Schreck wie gelähmt.
    Als der Mann sie zu ihrem Wagen hinüberzerrte, stammelte sie: »Bitte, nehmen Sie einfach die Schlüssel.«
    »Keine Chance, Baby. Ich will dich
und
deine Karre.«
    »Nein, bitte!«, stöhnte sie. »Ich kann Ihnen viel Geld geben. Ich…«
    »Schnauze! Du kommst mit.«
    »Nein, das wird sie nicht.« Der Lincoln-Mann war an die Beifahrertür ihres Lexus getreten. Er stand jetzt zwischen ihnen und dem Wagen. Seine Augen waren ruhig. Er schien keine Angst zu haben. Der dünne junge Mann dagegen wirkte verängstigt. Er streckte

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