Todesrennen
Dorn!«, rief Bell ihrem Sergeant zu, einem mit zahlreichen Orden ausgezeichneten Kampfveteranen, auf dessen Brust unter anderem die mit einem blau-gelben Band versehene Spanish-American War Marine Corps Spanish Campaign Service Medal prangte, jenes Ehrenzeichen, das den Teilnehmern am Spanisch-Amerikanischen Krieg verliehen worden war. »Im Fahrstuhlhaus versteckt sich ein Mörder. Folgen Sie mir.«
Der Veteran fackelte nicht lange, sondern rannte sofort hinter dem hochgewachsenen Detektiv her und befahl gleichzeitig seinen Männern, ihnen zu folgen. Das Innere der Armory war eine riesige kathedralenähnliche Drillhalle, so breit wie das Gebäude und etwa halb so lang. Ihre Kassettendecke reichte bis in Dachhöhe hinauf. Bell rannte zu den Fahrstuhl- und Treppenschächten. Die Fahrstuhltüren waren geschlossen, und laut dem Messingpfeil, der die Position der Kabine anzeigte, befand diese sich zurzeit am oberen Ende des Schachts.
»Zwei Männer hierher!«, befahl er. »Lassen Sie ihn nicht raus, wenn die Kabine runterkommt. Der Rest folgt mir!«
Er stürmte vier Treppenfluchten hinauf, gefolgt von den polternden Schritten der Soldaten, erreichte das Dach und trat in dem Moment hinaus, als Joe Mudds rote Liberator dröhnend das Gebäude umkreiste, nur wenige Meter vor Sir Eddison-Sydney-Martins blauer Curtiss Pusher.
Bell rannte zum Fahrstuhlaufbau. Die Tür war abgesperrt.
»Schießen Sie sie auf!«
Die Soldaten blickten fragend zu ihrem Sergeant.
»Tut es!«, befahl er. Sechs Männer pumpten drei kurze Salven in die Tür und sprengten sie auf. Bell setzte als Erster über die Schwelle, die Pistole schussbereit in der Hand. Der Maschinenraum war leer. Er blickte durch den Stahlgitterfußboden. Unter sich sah er die offene, nicht überdachte Kabine, die sich am oberen Ende des Schachts befand und ebenfalls leer war. Harry Frost war verschwunden.
»Wo kann er sein?«, rief der Sergeant. »Hier ist jedenfalls niemand. Sind Sie sicher, dass Sie ihn hier drin gesehen haben?«
Isaac Bell deutete auf die offene Falltür im Boden der Fahrstuhlkabine.
»Er ist zum Zugseil hinuntergeklettert.«
»Unmöglich. Niemand kann sich an diesem verölten Kabel festhalten.«
Bell sprang in die Fahrstuhlkabine hinab und warf einen Blick durch die Bodenklappe. Seine scharfen Augen entdeckten winzige Kerben in der Fettschicht, die den geflochtenen Stahldraht bedeckte, aus dem das Zugseil bestand. Er zeigte seinen Fund dem Sergeant.
»Woher, zum Teufel, hat er eine Kabelbremse?«
»Er war vorbereitet«, sagte Bell und kletterte an der Seitenwand der Kabine nach oben, um zur Treppe hinüberzurennen.
»Irgendeine Idee, wer er ist?«
»Harry Frost.«
Angst flackerte im Gesicht des alten Soldaten auf. »Wir haben Harry Frost verfolgt?«
»Keine Sorge. Er kommt nicht weit.«
»Chicago ist seine Stadt, Mister.«
»Es ist auch unsere Stadt, und Van Dorns geben niemals auf.«
26
An diesem Abend parkte Isaac Bell einen Packard Model 30 in Pistolenschussweite einer dreistöckigen Villa in der Dearborn Street. In dem repräsentativen Bau residierte der Everleigh Club, das luxuriöseste Bordell von Chicago. Er hatte den Schirm einer Chauffeursmütze tief über die Augen gezogen und beobachtete, wie zwei schwergewichtige Van-Dorn-Agenten die Eingangstreppe hinaufstiegen. Da sie von außerhalb kamen, würden sie weder von dem Portier noch vom übrigen Personal erkannt werden. Sie trugen Abendkleidung, so dass sie wie Kunden erschienen, die reich genug waren, um dem Etablissement einen Besuch abzustatten. Dann betätigten sie die Klingel. Eine massive Eichentür schwang auf, die Detektive wurden hereingebeten, und die Tür schloss sich hinter ihnen.
Bell hielt auf den Gehsteigen Ausschau nach Cops und Gangstern.
Eine verstohlene Bewegung in der Nähe einer Straßenlaterne weckte seine Aufmerksamkeit. Eine schlanke Gestalt – ein junger Mann in Straßenanzug und Bowlerhut – mied nach Möglichkeit den Lichtkegel der Laterne, dann querte er den Bürgersteig und ging dabei so nahe am Packard vorbei, dass Isaac Bell die Gestalt sofort erkannte.
»Dash!«
»Hallo, Mr. Bell.«
»Wie zum Teufel kommen Sie hierher?«
»Mr. Bronson gab mir die Erlaubnis, meinen Bericht persönlich abzuliefern. Hab dann eine Freifahrt mit dem Overland Limited organisiert, indem ich als Wache des Post- und Kurierwagens mitgefahren bin.«
»Sie kommen gerade rechtzeitig. Haben Sie Ihren Revolver bei sich?«
James Dashwood zog einen langläufigen Colt
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