Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
ein erfreuliches Ereignis an einem sonst so schrecklichen Tag.
Nur … sobald wir Yang in seinem geflickten braunen Mantel vor dem kalten Kamin stehen sehen, weiß ich, dass etwas nicht stimmt. Das ist nicht der fröhliche, schelmische Bruder, von dessen Streichen Mei so gerne erzählt. Die Mundwinkel seiner vollen Lippen zeigen nach unten, und die dunklen Augen weichen ängstlich ihrem Blick aus. Was für Neuigkeiten er auch hat, er wird sie nur ungern erzählen.
Mei neben mir bleibt schlagartig stehen und umklammert meine Hand so fest, dass meine Knochen knacken. Sie hält sich gar nicht erst mit Begrüßungsfloskeln auf. »Was ist passiert?«
»Li und Hua wurden heute Morgen erneut gefangen genommen.« Yang schluckt, und sein Adamsapfel hüpft auf und ab. »Die Wächter haben sie noch vor Sonnenaufgang geholt.«
»Erneut gefangen genommen?« Mei blinzelt ihn an. »Ich … ich verstehe nicht ganz.«
Mir sinkt das Herz. »Wo wurden sie hingebracht?« Ich hoffe verzweifelt, dass sie eine Verhandlung bekommen und nach Harwood geschickt werden. Wenn es Harwood ist, kann ich sie retten. Wenn es Harwood ist, haben wir Tess’ Vorhersehung trotzdem geändert.
»Aufs Gefängnisschiff«, sagt Yang und bestätigt meine Befürchtung. »Sie sind gestern aus dem Gefängnis geflohen. Oder … jemand hat sie befreit. Hexen, heißt es. Alle Häftlinge sind entkommen, bis auf zwei, die von den Wächtern erschossen wurden. Wir hatten vor, die Mädchen zu unserer Cousine Ling zu schicken, aber Mama wollte, dass sie vorher wenigstens noch eine Nacht ordentlich schlafen. Sie waren gerade dabei, ihre Sachen zu packen, als die Wächter kamen. Eine Stunde später und sie wären schon fort gewesen.« Er boxt sich mit der Faust in die Handfläche.
Mei schlägt die Hand vor den Mund. »Es gibt keine Verhandlung?«
»Nein. Die Wächter sagten, wir könnten froh sein, dass wir nicht alle verhaftet wurden, weil wir Flüchtlingen Unterschlupf gewährt haben.« Yang schüttelt den Kopf, und die zottigen schwarzen Haare fallen ihm in die Stirn. »Der ganze Wagen war voller Gefangener. Sie haben wahrscheinlich alle mitgenommen, die sie zu Hause aufgefunden haben. Ich hoffe, die meisten waren schlau genug, sich woanders zu verstecken.«
Mei lässt sich auf den Seidensessel sinken, ihr sonnengelbes Kleid hebt sich leuchtend von dem hässlichen Braun ab. Ich habe ihr vorhin noch gesagt, dass sie aussieht wie eine Narzisse. Jetzt wird sie dieses Kleid wahrscheinlich immer mit diesen furchtbaren Nachrichten in Verbindung bringen. Ich kann ihr ansehen, dass sie versucht, nicht zu weinen, aber ihre Unterlippe zittert trotzdem.
»Ich werde sie vielleicht nie wieder sehen«, sagt sie leise.
»Das darfst du nicht denken.« Ich knie mich neben sie.
»Ach, Mei«, sagt Yang und legt ihr die Hand auf die Schulter.
Sie schüttelt ihn ab. »Du konntest dich ja wenigstens noch von ihnen verabschieden!«
»Haben sie gesagt, wie hoch die Strafe sein wird?«, frage ich.
Yang schluckt. »Fünf Jahre.«
Ich halte den Blick auf den hässlichen braunen Teppich gesenkt. Ob sie vielleicht freigelassen worden wären, wenn wir nicht eingegriffen hätten? Statt Tess’ Vorhersehung zu verhindern, haben wir sie vielleicht erst recht geschehen lassen.
»Wenigstens kommen sie nicht nach Harwood«, sagt Yang. »So ist noch nicht alles verloren.«
Mei steht auf, strafft die Schultern und wirft mit einem Mal all ihre Verzweiflung ab. »Sie werden es schaffen. Wir müssen Vertrauen haben.«
»In wen, den Herrn? Die Brüder?«, spottet Yang.
»In Li und Hua. Die beiden sind starke Mädchen. Sie sind klug. Sie werden sich umeinander kümmern.« Mei legt ihrem Bruder eine Hand auf den Arm. »Du bist jetzt zu Hause der Älteste, wo Li nicht mehr da ist. Du musst dich um die Kleinen kümmern und Baba im Laden helfen. Du darfst nichts Unüberlegtes tun, verstanden?«
Yang nickt. Er ist selbst gerade erst fünfzehn. »Werde ich nicht.«
»Gut. Dann geh jetzt nach Hause«, sagt Mei und umarmt ihn kurz. »Sei vorsichtig.«
»In Ordnung«, sagt er und schlurft mit rotem Gesicht von dannen. Seine Hosenbeine und der Mantel sind immer noch tropfnass von dem weiten Weg durch den Schnee bis hierher.
Mei winkt ihm zitternd aus der offenen Tür hinterher. Vis Vater, Robert, schaufelt gerade den Weg auf der Vordertreppe frei. Der Himmel ist tiefgrau, und es schneit immer noch, aber die Flocken sind jetzt dicker, was bedeutet, dass der Sturm allmählich nachlässt. Wir blicken
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