Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
Gesicht in den Händen.
Mei starrt uns beide an. Sie steht auf, und ich denke schon, dass sie weglaufen will, aber stattdessen stellt sie sich auf die Zehenspitzen und zieht den Lüftungsschlitz vom Kamin zu. Dann kauert sie sich zu uns auf den Boden.
»Tess, du bist die Seherin?«, flüstert sie.
Tess hebt ihr tränenüberströmtes Gesicht. »Bitte vergib mir.«
»Niemand weiß es, Mei«, ermahne ich sie. »Noch nicht einmal Maura. Niemand.«
»Ich werde es nicht verraten. Ich schwöre es.« Mei sieht Tess ehrfürchtig an, als wäre sie kein weinendes Mädchen, sondern eine Göttin. Als hätte sie nicht gesehen, wie Tess sich mit Tee bekleckert hat, oder als hätte sie Tess nicht beim Schachspielen geschlagen oder sie mit ihrer schlimmen chinesischen Aussprache aufgezogen. »Ich dachte, dass du gestern vielleicht … als du während unseres Unterrichts auf einmal …«
»Es tut mir leid«, schluchzt Tess, und ihr ganzer Körper zittert. »Ich wollte sie retten. Ich hätte niemals gedacht, dass die Brüder sich all ihre Namen aufgeschrieben haben und wo sie wohnen.«
»Sch, sch. Schon gut.« Ich sehe Mei an und bete, dass sie Tess hilft, sich selbst zu verzeihen. »Gestern beim Frühstück, als ihr auf einmal schwindelig wurde, hat sie vorhergesehen, wie die Häftlinge auf das Schiff gebracht wurden. Sie wollte es verhindern.«
Mei legt Tess zögernd eine Hand aufs Knie. »Ein paar von ihnen sind bestimmt davongekommen. Yang sagte, wenn die Wächter eine Stunde später gekommen wären, wären Li und Hua schon auf dem Weg zu unserer Cousine gewesen. Ich wette, viele der Häftlinge waren nicht zu Hause oder haben einen falschen Wohnort angegeben oder so.«
»Ich konnte es nicht ändern. Es sollte genau so passieren.« Tess wischt sich mit beiden Handrücken die Tränen weg. »In den Büchern steht, die Seherinnen sind unfehlbar, aber es gab noch nie eine Seherin, die auch eine Hexe war, also dachte ich … aber ich lag falsch. Ganz gleichgültig, wie viele schlimme Dinge ich sehe, ich werde nie in der Lage sein, sie zu verhindern.«
Hilflos sehe ich Mei an. Das hier ist nicht so einfach, wie über einen Kratzer zu pusten, ein verheddertes Band zu entknoten oder eine verlorene Kette wiederzufinden. Das hier ist ein wahrer Albtraum, und ich weiß nicht, wie ich Tess trösten soll.
»Es war mutig von dir, es zu versuchen«, sagt Mei. »Mehr können wir nicht tun, oder?«
»Kannst du mir jemals verzeihen?«, fragt Tess ganz leise.
»Da gibt es nichts zu verzeihen.« Mei tätschelt ihr das Knie. »Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.«
Wir reden noch ein bisschen, bis Tess sich einigermaßen beruhigt hat, und dann bringe ich sie in ihr Zimmer und stecke sie mit Zyklop und einem von Mauras Liebesromanen ins Bett. Seltsame Bettgesellen, aber Tess scheint es zu trösten, und mich erinnert es wieder daran, was für eine eigenartige Mischung aus Frau und Kind sie doch ist, die eine viel zu schwere Last tragen muss.
Ich würde alles tun, um ihr zu helfen. Auch wenn das bedeutet, einen Bund mit dem Teufel einzugehen.
»Herein«, sagt Elena, als ich an ihre Tür klopfe. Ihr Zimmer ist kleiner als die Doppelzimmer, die sich die Schülerinnen teilen, aber groß genug für ein Himmelbett mit hauchdünnem rosafarbenem Stoff und ein Sofa aus blassgelbem Chintz. Auf dem Bett liegt eine offene Reisetasche. Offenbar war Elena gerade am Auspacken.
Sie deutet aufs Sofa, und ich setze mich. »Wie war die Reise?«, frage ich.
»Du hast gemerkt, dass ich weg war? Ich fühle mich geschmeichelt, Cate.« Elena setzt sich an den Frisiertisch. »Ich habe meine Tante am anderen Ende der Stadt besucht. Inez hatte mich angewiesen, für ein paar Tage freizunehmen, um einen klaren Kopf zu bekommen, unter der Voraussetzung, dass ich ohne irgendwelche romantischen Gefühle für eine Schülerin wiederkomme.«
Ihre Offenheit verschlägt mir den Atem. »Romantische Gefühle für eine … für Maura, meinst du?«
»Dafür dass du so ein kluges Mädchen bist, kannst du ganz schön begriffsstutzig sein, was andere Menschen angeht.« Elena spricht ohne Zorn, aber mir stellen sich trotzdem die Nackenhaare auf. Sie hat nun mal diese Wirkung auf mich.
»Nun, du hast Maura ja auch gesagt …«
»Dass sie meine Gefühle missverstanden hat. Dass ich ihre Zuneigung nicht teile. Dass es ein Fehler war, sie zu küssen«, zählt Elena auf. Sie fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich weiß sehr gut, was
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