Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
wollen. Er hat nie etwas dagegen gesagt, wenn ich im Kleinen auf Dutzende Arten gegen die Regeln der Bruderschaft verstoßen habe. Ich nehme an, er wusste nie, dass ich es auch in größerem Maße getan habe. Trotzdem hatte ich irgendwie gehofft, dass er mich als das akzeptieren würde, was ich bin, falls er je die Wahrheit über mich herausfinden sollte.
Doch das jetzt gibt mir zu denken. Ich weiß nicht, ob ich mich bei ihm noch sicher fühlen kann.
»Es ist der erste große Auftrag für Jones. Wie würde ich denn dastehen, wenn ich mich weigerte, an einem Projekt für die Bruderschaft zu arbeiten? Und ehrlich gesagt, würde ich mich auch nicht weigern wollen. Das hier ist gut fürs Geschäft, und wenn ich eines Tages Partner von Jones werden will – er hat nämlich keine Söhne, die seine Firma übernehmen könnten, nur einen Neffen, den er nicht besonders mag …«
Das ist nicht mehr der gleiche Junge, mit dem ich in den Heidelbeerfeldern Fangen oder am Teich Piraten gespielt habe. Aber vielleicht bin ich auch nicht mehr die Cate, an die er sich erinnert.
Ich lächle ihn an und versuche den schüchternen Blick, den Maura ihm durch ihre dichten Wimpern zugeworfen hat, nachzuahmen. Doch meine Wimpern sind dünn und blond, und ich komme mir dumm dabei vor. »Du hast natürlich recht. Verzeih. Wahrscheinlich tun mir die Mädchen einfach nur leid, weil ich so viel mit ihnen zusammen bin.«
»Du solltest etwas vorsichtiger sein mit dem, was du sagst. Wenn du jemand anders gegenüber solche Dinge äußern würdest, könntest du dadurch in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.« Paul legt mir eine Hand auf die Schulter. Er riecht nach Bleistift und Schiefer. »Was würden die Schwestern dazu sagen?«
»Sie predigen Mitleid mit denen, die mit weniger Glück gesegnet sind. Aber du hast recht, wir dürfen nicht vergessen, warum die Mädchen überhaupt dort sind.« Weil die Brüder gnadenlos sind. Ich wende mich wieder den Zeichnungen zu. »Wird der Krankensaal in den Neubau verlegt werden?«
»Nein, die Küchen und der Krankensaal bleiben im alten Gebäude, siehst du?« Paul zieht mit seinem gebräunten Zeigefinger eine Linie durch das Erdgeschoss.
»Was ist das für ein kleiner Raum?«, frage ich, als sein Finger über ein leeres Feld neben der Küche fährt.
»Nur ein Vorratsraum.« Er zuckt mit den Schultern. »Da werden die Medikamente und das Laudanum für die Mädchen aufbewahrt. Die Vorsteherin sagte, sie hätte Probleme mit Krankenschwestern gehabt, die das Zeug für sich selbst herausgeschmuggelt haben, deswegen bewahrt sie es jetzt verschlossen auf. Gegenüber wird der überdachte Übergang zum Erdgeschoss des Anbaus sein, wo die neue Waschküche hinkommt, und …«
Er redet immer weiter, doch ich höre gar nicht mehr zu. Ich war davon ausgegangen, das Laudanum würde in der Küche aufbewahrt, wo sich jede Menge Köchinnen aufhalten, was es uns unmöglich gemacht hätte, dort hineinzuschleichen.
Doch das hier ändert alles.
Meine Gedanken schwirren und klirren, und ich bin einigermaßen erstaunt, dass mir kein Rauch aus den Ohren quillt, während ich am Planen bin. Ich will sofort in den Schnee hinauslaufen; ich muss mit Schwester Sophia reden. Aber ich bleibe weitere zwanzig Minuten, bewundere die Zeichnungen des großartigen neuen Hauses, dessen Verantwortung ihm Jones übertragen hat, trinke meinen Tee in dem großen Ledersessel sitzend und höre Paul zu, wie er sich über sein Harwood-Projekt auslässt. Ich versuche, mein Entsetzen darüber zu verbergen, dass die Brüder überhaupt eine Erweiterung bauen lassen. Wie viele Mädchen planen sie denn noch wegzusperren?
Die Leben dieser Mädchen sind wichtiger als der Erfolg von Jones’ Firma, und die Tatsache, dass Paul das nicht sehen kann oder nicht sehen will, hat alles zwischen uns geändert. Er ist zwar immer noch der Gleiche, der mich vor einem Monat geküsst hat – er hat immer noch dieselben blonden Haare, dieselben breiten Schultern und dasselbe breite Grinsen –, aber ich kann ihn nicht mehr mit denselben Augen sehen.
Ich habe mich zum Teil auch deshalb in Finn verliebt, weil er den Brüdern kritisch gegenüberstand, weil er ihre Lehren schon infrage gestellt hat, bevor er überhaupt wusste, dass ich eine Hexe bin. Vielleicht ist es nicht gerecht, die beiden miteinander zu vergleichen, da Finn einen Blaustrumpf zur Mutter hat, während Pauls Mutter sehr fromm ist. Aber ich vergleiche sie nun mal, und ich weiß sicher, dass ich niemals
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