Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
her. Ich renne praktisch, meine Stiefel versinken im Morast. Finn hinter mir bemerke ich kaum. Als die Bäume schließlich hinter uns liegen, sehe ich den Pulk auf dem Richmond Square. Der ganze Platz ist voller Menschen. Sie drängen sich sogar schon auf den weißen Marmorstufen der Kathedrale. Es sind nicht Dutzende Leute, die rufen. Es sind Hunderte. Vielleicht sogar Tausende.
Hier sind mehr Menschen versammelt, als ich je in meinem Leben gesehen habe.
Ob sie dieses Mal mehr als Bücher verbrennen?
Tess ist am äußersten Rand der Menge stehen geblieben und beobachtet das Geschehen mit großen Augen.
»Lasst die Frauen arbeiten! Lasst die Frauen arbeiten!«, rufen die Leute im Chor, immer und immer wieder. Manche halten Holzschilder hoch, auf denen steht: LASST DIE FRAUEN ARBEITEN und FRAUENLÖHNE HELFEN FAMILIEN ERNÄHREN und WIR HABEN HUNGER. Es sind größtenteils Menschen aus der Arbeiterklasse: Männer in geflickten Hosen oder den neumodischen Jeans, die Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Sie tragen Mützen und dreckige Arbeitsstiefel. Einige halten brüllend Becher mit Cidre in die Luft. Es sind auch ein paar Frauen darunter, die neben ihren Ehemännern rufen: »Lasst uns arbeiten!«
Dutzende Leute halten Flugblätter in den Händen. Ein an uns vorbeigehender Mann lässt ein zerknülltes Flugblatt fallen. Ich hebe es auf und glätte das Papier. Darauf ist eine Karikatur von zwei dünnen Kindern, die mit leeren Tellern in den Händen und großen Augen ihre Mutter ansehen, die strickend in einem Schaukelstuhl sitzt. Auf dem nächsten Bild sind zwei dicke Männer in dunklen Umhängen zu sehen, die sich mit Haxen und Hühnerbeinen und Kuchen vollstopfen. Die Bildunterschrift lautet einfach: Lasst die Frauen arbeiten! Kommt zum Richmond Square und protestiert gegen die neuen Gesetze gegen Frauenarbeit. Unsere Familien hungern, während unsere Frauen untätig rumsitzen müssen.
»Ich glaube, wir sollten besser gehen«, sagt Finn über meine Schulter.
»Ich habe noch nie vorher einen Protest gesehen«, sage ich atemlos. »Das ist großartig!«
»Ich weiß nicht, ob es vorher überhaupt schon einmal einen Protest gab. Jedenfalls nicht gegen die Bruderschaft«, sagt Tess. Unsere Blicke treffen sich, und ich weiß, dass sie das Gleiche denkt wie ich. Es gab Proteste gegen die Schwestern von Persephone. Ich habe davon gelesen. Das war damals der Anfang vom Ende.
Da kommt ein stämmiger Mann mit einem Schlapphut aus Kord auf uns zu. »Wollen Sie mitprotestieren, Bruder?«
»Wir wollten gerade gehen«, antwortet Finn und fasst mich am Ellbogen.
Der Mann hält ihm ein Flugblatt hin. »Bleiben Sie. Sie sollten sehen, was die Leute von Ihren neuen Gesetzen halten.«
»Es ist nicht mein Gesetz. Ich denke, dass Frauen das Recht haben sollten, arbeiten zu gehen«, erklärt Finn.
»Sie haben also dagegengestimmt, ja?«. Als Finn zögert, lacht der stämmige Mann. »Warum sollten Sie auch? Ihr lehnt euch zurück und werdet reich von unserem Zehnten, während unsere Familien hungern. Wenn man wohlgenährt ist, ist es leicht, über Moral zu reden.«
Da kommt ein Mann mit markantem Gesicht und olivefarbener Haut herangeschlendert. Er trägt ein rotes Flanellhemd. »Mit der Moral ist es bei ihm wohl nicht weit her, Ted. Ist so unverschämt und treibt es gleich mit zwei Mädchen auf einmal. Scheinheilige, alle zusammen.«
»Halten Sie Ihre Zunge im Zaum. Diese Damen sind Novizinnen der Schwesternschaft.« Finn zieht Tess hinter sich.
»Diese Klostermädchen sind keinen Deut besser als die Brüder. Ich wette, die haben in ihrem Leben noch nicht einen einzigen Tag ehrliche Arbeit geleistet«, sagt der Dunkelhaarige. Er hat den gleichen spanischen Akzent wie Schwester Inez.
Zu meiner eigenen Überraschung entgegne ich empört: »Oh doch. Wir pflegen die Kranken und bringen den Armen Essen.«
»Aber ihr verzichtet auf nichts. Ihr legt euch abends immer noch mit vollen Bäuchen auf euren edlen Federkissen schlafen«, erklärt Ted.
»Wir wollen eure Wohltätigkeit nicht«, sagt der Spanier. »Wir wollen uns selbst versorgen.«
Voller Abscheu sehe ich die beiden an. »Sie sehen kaum so aus, als würden Sie hungern.«
Der Dunkelhaarige packt mich lachend am Arm und zieht mich von Finn weg. »Du bist wohl leicht reizbar, was? Ich bezweifle, dass er es zu würdigen weiß«, sagt er und nickt in Finns Richtung. »Wir könnten eine Menge Spaß zusammen haben, Schwester.«
Sein Atem riecht nach Alkohol. Jetzt
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