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Tödlicher Applaus

Tödlicher Applaus

Titel: Tödlicher Applaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Øystein Wiik
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feine Stuckmuster ein nationalromantisches Motiv umrahmten. Er blickte auf die Pfütze, die sich unter Anna bildete. Die Fruchtblase war geplatzt, die Geburt hatte begonnen. Er rauchte weiter, bis die Türglocke ihn aus seiner Apathie riss. Er drückte die Zigarre aus, riss den Schlipsknoten auf und öffnete die beiden oberen Knöpfe seines Hemdes, bevor er sich zur Haustür wandte.
    Es war sein wohlmeinender Nachbar, ein untersetzter Mann aus der Steiermark. »An Ihrem Auto brennt noch Licht.«
    »Mein Gott, wirklich? Hören Sie, hier ist gerade etwas Schreckliches passiert.« Kamarov riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Können Sie einen Krankenwagen rufen?«
    Der Nachbar rannte nach Hause und war im Handumdrehen wieder zurück.
    Kamarov kniete neben Anna. »Sie ist gestürzt! Mein Liebling. Sie hat sich gefreut, dass ich endlich nach Hause gekommen bin, und dann ist sie gestürzt. Sie wacht nicht wieder auf!« Kamarov versagte die Stimme, dann verfiel er in ein Geheul wie ein russisches Klageweib. »Und die Geburt, die Geburt hat eingesetzt.«
    Der untersetzte Nachbar zog einen Rosenkranz hervor und begann ein Ave Maria zu beten. Victor stimmte ein.
    Zitternde Krämpfe schüttelten Annas Körper. Sie war leichenblass und schweißgebadet.
    Sirenen kamen näher und rissen Victor aus seinem Gebet. Auch der Nachbar hielt inne und lauschte. »Ich gehe ihnen entgegen«, sagte er und rannte auf den Vorplatz, wobei er weiter sein Ave Maria leierte.
    Zwei kräftige Männer kamen mit einer Trage herein. Vorsichtig schoben sie sie unter Anna.
    »Sie ist gestürzt …«, versuchte Kamarov zu erklären.
    »Wir sehen, was geschehen ist«, antwortete einer der Sanitäter schroff. »Sie können mit dem Krankenwagen mitfahren. Reden Sie mit ihr, bitten Sie sie durchzuhalten.«
    »Aber sie ist doch …«
    »Bewusstlos, ja. Tun Sie einfach, was ich sage.«
    Sie hoben Anna behutsam an und trugen sie in den Wagen, der sofort losraste, kaum dass Victor Platz genommen hatte. Als Letztes sah er seinen untersetzten Nachbarn, der ihm besorgt mit dem Rosenkranz in der Hand nachwinkte.
    Anna wurde in einen der Operationssäle geschoben und er in einen Warteraum geschickt. Er setzte sich, senkte den Kopf und betete. Er betete für Anna, für ihr ungeborenes Kind, und er betete um Vergebung dafür, dass er nichts fühlte.
    Stunden vergingen, ohne dass etwas geschah. Er war allein in dem kahlen Warteraum. Eine seltsame Stille lag über dem Krankenhaus. Victor wurde von einer fast fatalistischen Ruhe erfasst. Er blätterte abwesend in den Zeitschriften, die dort lagen, und war nicht im Geringsten schockiert über seine fehlenden Gefühle für Anna. Er hatte vom ersten Moment an gewusst, was er von ihr wollte. Dass ihr übereifriger Vater ihn aufgespürt und von ihm verlangt hatte, Verantwortung zu übernehmen – was hatte Anna das gebracht? Nichts. Es hatte sie beide ins Unglück gestürzt. Jetzt lag sie auf dem Operationstisch und rang mit dem Tod. Und das Kind … Victor ging in sich und suchte nach Vatergefühlen, spürte aber wieder nichts. Er war nicht dafür geschaffen, Vater zu sein.
    Kurz darauf kam ein Arzt mit sorgenvoller Miene auf ihn zu. »Herr Kamarov? Der Zustand Ihrer Frau ist kritisch. Wir tun, was wir können, aber ihre Chancen stehen nicht gut. Sie hat schwere Kopfverletzungen. Wenn es noch andere Angehörige gibt, würde ich Ihnen raten, sie zu verständigen. Es tut mir leid, dass ich so offen mit Ihnen sprechen muss.«
    Der Arzt verschwand wieder hinter einer Schwingtür, und Victor fühlte seinen Puls steigen. Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Es hatte ihm alle nur erdenklichen Zeichen gegeben, seinen eingeschlagenen Kurs fortzusetzen. Er ging zur Pforte und bat darum, ein Gespräch nach Stockholm führen zu dürfen. Die Frau hinter der Glaswand wies auf einen Münzfernsprecher an der Wand hin und lachte, als Victor sie fragte, ob sie ihm vielleicht ein paar Scheine wechseln könne. Er durchwühlte seine Taschen und fand ein paar wenige Münzen. Für ein langes Gespräch würden sie nicht reichen. Er atmete tief durch und senkte dann die Schultern.
    »Michael Steen.«
    »Papa«, sagte Victor. »Es ist etwas Schreckliches geschehen.«

Blutsbande
    »So etwas habe ich noch nie erlebt«, erklärte der junge Arzt. »Sie hat das Kind zur Welt gebracht, während sie im Koma lag. Sie war die ganze Zeit bewusstlos, aber als wir ihr das Kind auf die Brust gelegt haben, hat sie plötzlich die Augen aufgeschlagen und

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