Tokio Killer 04 - Tödliches Gewissen
jetzt nichts anderes tun als warten, und ich ließ mich von Dox zu einem weiteren Abend in der Stadt überreden. Da mir unser gemeinsames Dinner ein paar Tage zuvor weitaus mehr Spaß gemacht hatte, als wie üblich allein in einem Hotelzimmer zu hocken, musste er keine großartigen Überredungskünste anwenden. Doch diesmal durfte ich entscheiden, wo wir hingingen.
Ich ging hinunter in die Lobby, wo wir uns für acht Uhr verabredet hatten. Er war wieder vor mir da, und in seinem Aufzug - über der Hose getragenes, kurzärmeliges, cremefarbenes Leinenhemd und Jeans - sah er wieder ganz wie der typische Amerikaner im Ausland aus. Er war in ein Buch vertieft. Als ich näher kam, konnte ich den Titel lesen: Jenseits von Gut und Böse.
»Du liest Nietzsche?«, fragte ich ungläubig.
Er sah mich an. »Ja, wieso nicht?«
Ich druckste einen Moment herum, fürchtete, ihn zu kränken, ganz gleich, was ich als Nächstes sagte. »Na ja, ich dachte bloß ... «
Er lächelte. »Ich weiß, ich weiß, jeder denkt, ein Südstaatler kann nichts in der Birne haben. Also, mein Vater war bei einem großen Pharmakonzern beschäftigt, und ich bin in Deutschland aufgewachsen, wohin seine Firma ihn geschickt hatte. Ich hab den guten alten Friedrich in der Schule durchgenommen, und er hat mir gefallen. Der ganze Kram über den Willen zur Macht und so weiter. Wenn ich ihn jetzt lese, ist das für mich irgendwie tröstlich.«
»Ein intellektueller Südstaatler, ich fass es nicht«, sagte ich.
Er lachte. »He, wieso hast du überhaupt erkannt, was ich lese, Cowboy? Hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
Ich zuckte die Achseln. »Als ich jung war, hatten mich ständig irgendwelche Gangs auf dem Kieker. Das beste Versteck für mich war die Bibliothek. Da haben sie nicht nach mir gesucht. Irgendwann wurde es mir langweilig, und da hab ich angefangen, die Bücher zu lesen, die da rumstanden. Und so ist es geblieben.«
»Dass irgendwelche Gangs dich auf dem Kieker haben?«
Ich lachte. »Könnte man fast meinen, was? Nein, das mit dem Lesen, meine ich.«
»Daher hast du also all die ausgefallenen Wörter, die du so gern benutzt. Das hat mich schon öfters gewundert. Mein eigener umfassender Wortschatz bereitet dir ja offenbar auch keine Probleme. Selbst ein Wort wie >Perineum< ist dir anscheinend geläufig.«
»Nett, dass du das sagst.«
Er klappte das Buch zu und stand auf. »Also, was machen wir heute Abend? Diskothek? Massagesalon?«
»Ich hatte eigentlich eher an einen Besuch im Lumpini-Stadion gedacht, und anschließend vielleicht in eine Bar. Eine Bar für Erwachsene.«
»Klar, einen kleinen Thaiboxkampf würde ich mir gern anschauen. Aber unter einer >Bar für Erwachsene< kann ich mir nichts vorstellen ... Ist das so was wie ein Video für Erwachsene? Dafür bin ich immer zu haben.«
»Dann wirst du vielleicht enttäuscht sein. Aber du solltest es auf jeden Fall ausprobieren.«
Er grinste. »Natürlich probier ich es aus. Mann, ich bin tri-sexuell, Partner, ich probier alles mal aus.«
Wir gingen durchs Treppenhaus ins Tiefgeschoss, dann durch das Shoppingcenter Amari Plaza hinaus auf die Straße, wo Dox ein Taxi ranwinken wollte.
»Moment«, sagte ich. »Lass uns vorher noch eine Runde drehen.«
»Eine Runde drehen ... Mann, ist das wirklich notwendig? Wir sind doch schon auf Umwegen ins Hotel gefahren. Wir wissen, dass wir clean sind.«
»Dass wir vorher clean waren, heißt nicht, dass wir es jetzt immer noch sind. Du hast gestern geduscht, richtig? Heißt das, du musst heute nicht duschen?«
»Schön, aber ... «
»Um jemanden aufzuspüren, muss man ihm nicht unbedingt körperlich folgen. Denk dran, was Delilah gesagt hat. Wir werden von einigen hochmotivierten Leuten gesucht. Da müssen wir es ihnen ja nicht unbedingt leicht machen.«
Er seufzte. »Na gut, na gut. Ich will bloß die Kämpfe nicht verpassen.«
Wir gingen zu Fuß zur Chit-Lom-Station und fuhren mit dem Sky Train zur nächsten Station Phloen Chit. Wir warteten auf dem Bahnsteig, bis alle Passagiere ausgestiegen waren, dann stiegen wir wieder ein und fuhren zurück zur Siam-Station. Wir nahmen den Aufzug hinunter auf die Straßenebene und gingen durch einen Soi zur Henry Dunant Road, wo wir in ein Taxi stiegen.
Dox schaute auf die Uhr. »Zufrieden? Wir verpassen die Hälfte von den Kämpfen.«
»Die guten Kämpfe fangen erst um neun an.«
Er sah mich an. »Kennst du Thailand besser, als du bisher hast durchblicken lassen, Partner?«
Ich zuckte die
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