Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
dasitzen und nachdenken und spüren, wie es war, in der Nähe meines Sohnes zu sein. Das war doch nicht übertrieben, oder? Menschen machten noch seltsamere Sachen. Sie besuchten Gräber und knieten vor Grabsteinen und schmückten die Erde über den Knochen mit Blumen. Und warum taten sie das, wenn nicht um irgendeine zarte Verbindung zu den unsteten Schatten der Erinnerung zu spüren? Genau das wollte ich auch. Nur für eine kleine Weile. Seine Nähe fühlen. Ganz kurz den verflogenen Augenblick genießen, als ich dieses kleine Kind in den Armen hielt.
Ich entdeckte eine Parklücke ganz in der Nähe und fasste das als Omen auf. Ich parkte den Wagen und verstellte den Seitenspiegel so, dass ich Midoris Wohnung im Blick hatte, in einem siebzehnstöckigen Vorkriegsgebäude einen Block entfernt. Es war kalt gewesen, als ich zuletzt hier war, genau wie jetzt. Ich konnte mich noch an alles erinnern. An jedes Wort.
Wenn er alt genug ist, werde ich ihm sagen, du seist tot. Das hatte ich ohnehin vor. Und das bist du auch. Das bist du wirklich.
War er jetzt alt genug? Hatte sie ihm bereits erzählt, dass der Vater, der jetzt keine hundert Meter entfernt in einem Auto saß, vor seiner Geburt gestorben war, so dass er für den Sohn nicht einmal existiert hatte?
Ich seufzte. Ich wollte an Koichiro denken, nicht an Midori. Mir fiel eine Zeile ein, die ich mal irgendwo gelesen hatte: Man vergisst die Dinge, an die man sich erinnern möchte, und erinnert sich an die Dinge, die man vergessen möchte.
Was zum Teufel machte ich hier eigentlich? Es wurde bald dunkel. Ich war müde, und ich wollte bei Sonnenaufgang wieder auf den Beinen sein, falls Accinelli Frühaufsteher war. Ich sollte los.
Aber ich blieb noch einige Minuten länger, beobachtete das Haus, betrachtete die Fenster, von denen ich wusste, dass sie zu ihrer Wohnung gehörten, und wünschte, ich könnte die Vergangenheit ungeschehen machen und die Gegenwart verändern. Bloß ein paar Korrekturen, ein paar andere Entscheidungen, dann würde ich jetzt vielleicht auf den Pförtner zugehen, meinen Namen nennen, ein Geschenk unter dem Arm, wissend, dass mein Sohn und seine Mutter mich erwarteten und sich auf mich freuten.
Ich warf wieder einen Blick auf den iPhone-Bildschirm. Accinellis Wagen hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Also gut, Zeit zu gehen. Die Bulletin Boards checken, noch schnell etwas essen, dann schlafen.
Ich blickte auf und sah einen Mann und eine Frau auf der anderen Seite der Christopher Street in meine Richtung kommen, ein kleines Kind zwischen ihnen. Sie trugen alle Mützen und Handschuhe, weil es so kalt war, sie eine Asiatin und er ein Weißer, und das Kind baumelte lachend an ihren Armen. Ich blinzelte und sah genauer hin, rutschte dann instinktiv auf meinem Sitz weiter nach unten. Es war Midori. Und das Kind war Koichiro.
Mein Herz pochte wie wild. Ich spähte wieder nach draußen, hin und her gerissen, wollte hinschauen, mich verstecken, aussteigen, hatte Angst davor, ärgerte mich, dass ich es nicht konnte, schämte mich für mein Zögern. Und wer war der weiße Typ an Midoris Seite, der die Hand meines Sohnes hielt?
Ich saß da, zusammengesunken und geduckt und ohnmächtig, und sah zu, wie sie auf der anderen Straßenseite vorbeigingen. Sie blieben vor Midoris Apartmenthaus stehen und unterhielten sich. Nach einer Minute beugte der Mann sich vor und küsste sie. Es war kein langer Kuss, aber es lag eine Intimität darin, eine Vertrautheit, die mich wütend machte. Der Mann bückte sich und sagte schmunzelnd etwas zu Koichiro. Koichiro lachte, und der Mann drehte sich um und ging weg. Midori und Koichiro blickten ihm einen Moment lang nach, dann gingen sie ins Haus.
Die Wut strömte plötzlich aus mir heraus, und an ihre Stelle trat eine harte, kalte Klarheit. Der Mann war zu Fuß. Ich konnte den Wagen stehen lassen, aussteigen und ihm folgen. Ich trug ja schon Mütze und Sonnenbrille, daher würde sich niemand an mein Gesicht erinnern. Und Handschuhe, ich würde also nicht mal Fingerabdrücke hinterlassen. Ich brauchte keine Zeit oder eine besondere Kontrolle über die Umgebung, weil es nicht natürlich aussehen musste. Ich wollte nicht, dass es natürlich aussah, ich wollte, dass es nach dem aussah, was es wäre, nämlich dass irgendein gesichtsloser Unbekannter ihn von hinten angefallen und ihm das Genick gebrochen und sich dann unbemerkt wieder aus dem Staub gemacht hatte, noch ehe sein Körper zusammengesackt war.
Midori würde
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