Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
bereit, jederzeit loszuschlagen. Sollte Alan noch einen weiteren Schritt machen, die Tür öffnen oder den Blick heben und Sams Augen in dem winzigen Schlitz entdecken, durch den er ihn beobachtete …
Die Gedanken rasten ihm durch den Kopf, sein Herz klopfte wild. Brennender Schweiß lief ihm ins Auge. Er blinzelte heftig, ohne jedoch den Blick von dem kleinen Spalt zu nehmen, durch den er ins Schlafzimmer blicken konnte. Nur noch einen Schritt.
Alan brachte sich in Sicherheit, indem er sich wieder dem Menschen zuwandte, der ihm am meisten bedeutete – sich selbst. »Verfluchte Scheiße«, sagte er zu seinem Spiegelbild. »Erst habe ich Korsakov im Nacken und jetzt auch noch die Bullen. Die werden hier in Scharen auftauchen, wenn Richland gefunden wurde.«
Er schlug die Schlafzimmertür auf und stapfte aus dem Zimmer, seine Worte verloren sich.
Leo Richland war tot? Wie das? Sam setzte sich auf die Toilette und starrte seine Waffe an. Wahrscheinlich hatte Alan ihn umgebracht. Er nahm die Pistole hoch, zielte auf die Rosen des Duschvorhangs. Er könnte Alan immer noch erschießen, dann hätte er eine Sorge weniger. Zwar würden ihn die Kameras erwischen, aber war das nicht unwichtig, solange Sarah und Josh nur sicher waren?
Seine Hand zuckte, als wäre wirklich gerade eine Kugel durch den Lauf gezischt und hätte einen Rückstoß verursacht. Nein, er konnte Alan nicht töten, nicht, ehe Sarah in Sicherheit war. Alans Tod würde zu viele Fragen aufwerfen und Korsakov auf den Plan rufen.
Irgendwie musste er Sarah jedoch eine Nachricht zukommen lassen – und zwar schnell, bevor Alan vielleicht noch einmal zurückkehrte. Er schaute sich um, suchte nach einer Möglichkeit, eine Botschaft zu hinterlassen, ohne dass es Alan mitbekommen würde. Sein Blick fiel auf den Spiegel. Als Kind hatte er oft gemeine Dinge mit dem Finger darauf gemalt, die seine Schwestern entdeckten, sobald sie aus der Dusche kamen.
Ein Dummer-Jungen-Streich, vielleicht aber schon wieder so dumm, dass er klappen könnte. Sarah hatte nach einer Wanderung immer gern geduscht, auf jeden Fall aber vor dem Schlafengehen.
Er beugte sich über das Waschbecken und atmete den Spiegel an. So hatte er eigentlich nicht seine ersten Worte an sie richten wollen; andererseits war nichts in den letzten zwei Jahren verlaufen wie geplant.
19
Sarah half Hal dabei, das unförmige Paket mit den sterblichen Überresten durch die Uferböschung hinauf bis zur Straße zu schaffen. Gerald Merton hinkte keuchend hinter ihnen her, da er die restliche Ausrüstung tragen musste. Jedes Mal, wenn ihn ein Ast im Gesicht traf, jaulte er auf.
»Passen Sie doch einfach besser auf«, brüllte Hal barsch über die Schulter zu ihm zurück. Sarah blieb abrupt stehen, beinahe wäre ihr das Fußende des Plastiksacks entglitten. So aus der Haut zu fahren war überhaupt nicht Hals Art.
Hal richtete seinen wütenden Blick nun auf sie statt auf Gerald. Er war ganz rot im Gesicht, und ihm lief Schweiß über Nase und Stirn. Als Gerald über eine Wurzel stolperte, entfuhr ihm ein ungehaltenes Schnaufen. Dann marschierte er weiter den Wanderweg entlang und zerrte sie mit sich, bis Sarah die zerbrechliche Fracht beinahe aus den Händen glitt.
Auch ihr machte die grässliche Aufgabe nicht besonders viel Freude, wenngleich sie sicher war, dass dies nicht Sams Leiche war. Aber Hal war so wütend, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Nicht einfach wütend. Fuchsteufelswild. Als hätte der Tote mit Absicht den unpassendsten Moment gewählt, um gefunden zu werden. Vermutlich machte Hal die Sache so zu schaffen, weil morgen der Jahrestag von Lilys Selbstmord war.
Sie verstauten den Sack hinten in Geralds großem Geländewagen. Der jammerte lauthals über die Feuchtigkeit und den Gestank. Aber Hal bereitete dem Gemecker ein Ende, indem er einfach davonstapfte, sich aus seinem Neoprenanzug schälte und wieder seine Jeans und das Uniformhemd überzog.
»Was hat dem denn heute die Laune verhagelt?«, fragte Gerald, als er und Sarah die Leiche mit eingerollten Decken stabilisierten, damit sie nicht im Kofferraum hin und her rutschte. »So grätig hab ich ihn ja noch nie erlebt. Nicht einmal als … « Er ließ den Satz unvollendet, sein Blick schnellte vom Leichensack zu Sarah.
»Als wir Lily aus dem Snakebelly gezogen haben«, beendete sie leise und in ernstem Tonfall den Satz für ihn. Lilys Körper war vollkommen zerschmettert gewesen, derartig übel zugerichtet, dass sie wie eine
Weitere Kostenlose Bücher