Totsein ist Talentsache (German Edition)
entstellt.
Aber Max hat ihr erklärt, dass man eben so aussieht, wenn man älter wird. Genau
das ist das Unbegreifliche für Anna.
Kein Mensch, ausnahmslos niemand in Österreich ist
älter als 55. Eine Tatsache, mit der Anna bisher sehr gut gelebt und die sie
noch nie infrage gestellt hat. Weil das Konzept 55+ bisher nicht
existiert hat. Soweit ihr bekannt ist, österreichweit. Gibt es vielleicht eine
Art staatlichen Verschönerungsverein, der alles eliminiert, das die
ästhetischen Ansprüche der Gesellschaft beleidigt? Das wäre schon heftig.
Allerdings würde es Anna nicht mehr überraschen. Offenbar darf in diesem Land
nur das Schöne, Gewinnbringende und Harmlose existieren.
Bernd starrt auf seine Handrücken und sagt: „Wirst du
mich auch noch lieben, wenn ich so aussehe? So faltig? Und fleckig? So … alt?“
Ein beängstigender Gedanke durchfährt Anna: „So alt …? Wer weiß, wie alt du
wirst. Wie alt ich werde. Niemand wird so alt.“ Sie antwortet: „Ich
werde dich immer lieben. Solange ich lebe.“ Wie lange das auch immer sein mag.
Als der alte
Mann aus der Küche zurückschlurft, bringt er außer einer Kanne Kaffee auch noch
drei Stamperln und eine Flasche mit. Max ist ganz sicher Sophies Vater. Alkohol
kurz vor Mittag muss auf eine lange Familientradition zurückgehen. Kopf und
Magen riskierend, gießt Anna eine generöse Menge Birnenschnaps in ihr Glas und
leert es auf einen Zug. Was nützt ein gesunder Körper, wenn der Geist krank
ist? Einen Augenblick lang herrscht Schweigen im Raum. Anna fühlt sich zu dem
alten Mann hingezogen. Blut ist also tatsächlich dicker als Wasser. Sie
beschließt, Max zu vertrauen. Als das Brennen in ihrem Hals nachlässt, erzählt
sie, was die vier Freunde bisher aufgedeckt haben und was letzte Nacht passiert
ist.
Es ist nicht leicht, etwas aus Max herauszubekommen.
Er redet zwar viel, aber das meiste davon ergibt wenig bis keinen Sinn. Nicht
nur, weil das, was er sagt, haarsträubend klingt. Sondern auch, weil die
meisten Sätze völlig zusammenhangslos aus seinem Mund purzeln. Es ist, als
hätte er seine Gedanken kräftig durchgemischt und zum Trocknen in die Sonne
gelegt, um sie nun in willkürlicher Abfolge aufzuklauben.
„Das sind die Drogen. Ich hab sie viel zu lange
bekommen. Und das Zeug ist echt stark. Sophie hat mich zum Glück schon vor
Jahren da weggeholt, aber ein Schaden ist trotzdem zurückgeblieben. Alles ein
bisschen gaga da oben“, entschuldigt sich Max, auf seine Stirn klopfend. Er
wirft einen verächtlichen Blick auf die Kanne, die artig dampfend vor ihm steht
und meint: „Guter Kaffee ist schwer zu bekommen. Wir haben damals viel Kaffee
bekommen. Der war echt gut. Zu gut.“
Und dann beginnt er zu erzählen.
„Wissen setzt sich aus bewusst Erlerntem und
zufälligen Erfahrungen zusammen. Mit einem Mindestmaß an brauchbarem Intellekt
kann man es dann auch noch anwenden. Dementsprechend können Menschen, die
Wissen besitzen, damit Gutes oder Schlechtes tun. Oder einfach sozial
verträglich vor sich hin leben. Blöd nur, wenn grad denen, die friedfertig ihr
Dasein genießen, ihr Wissen zum Verhängnis wird. Schlimm nämlich, wenn einer
daher kommt, der Gefahr darin wittert und die Leute zum Schweigen bringt.“ Ein
kalter Schauer läuft Anna über den Rücken, als Max hinzufügt: „Und zwar auf
ziemlich abartige Weise.“ – „Was meinst du damit? Gefängnis? Folter? Mord?“ Max
antwortet nicht. Anna stupst ihn vorsichtig an. Er reagiert nicht. Starr blickt
er in seine Kaffeetasse, als könnte er darin lange verschüttete Erinnerungen
wiederfinden.
„Opa? Hörst du mich?“ Anna wirft Bernd einen nervösen
Blick zu: „Schatz, was ist mit ihm? Mach was!“ Bernd meint: „Der schaut nur
bissl ins Narrenkastl. Oder ihm ist endgültig die Sicherung durchgebrannt.“ Er
fasst den alten Mann an der Schulter und rüttelt ihn.
Mit einem
verwirrten Blinzeln kehrt Max in die Wirklichkeit der Gegenwart zurück: „Wo war
ich gerade? Ach ja. Bei den Alten. Genau. Bei den Alten.“ Anna atmet auf und
schenkt sich Schnaps nach, während Max fortfährt: „Wisst ihr, man sieht deshalb
keinen von uns Alten in Österreich, weil wir einmal jung gewesen sind. Weil wir
etwas gesehen und erlebt haben. Nicht Krieg, Armut oder andere Gräuel. Sondern
einfach das Leben. Wir haben eine andere Welt gekannt. Eine Welt, die sich
plötzlich verändert hat. Die ist von ihm verändert worden. Und von der soll
niemand erfahren. Jaja, so ist das gewesen.
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