Ueber Deutschland
haben: so hat doch seine Rechtfertigung keinen andern Zweck, als ihm das Recht zu verschaffen, diesem angenommenen Kinde fernerhin Gutes zu thun.
Das Stück Nathan der Weise ist durch die Charakterschilderungen anziehender, als durch die Handlung. Der Tempelherr zeigt im Charakter Rauhigkeit, aus Furcht, zu viel Empfindung zu verrathen. Die orientalische Verschwendung Saladins steht mit der edeln Sparsamkeit Nathans im Widerspiel. Als jenen sein Schatzmeister, ein alter strenger Derwisch, warnt, sein Schatz sey leer, giebt Saladin zur Antwort: „Nun schlägst du meine Freudigkeit auf einmal nieder. Mir, für mich, fehlt nichts: Ein Kleid, Ein Schwert, Ein Pferd und Einen Gott! was brauch' ich mehr. – Aber dem Schatze fehlt's, und, in ihm, uns allen.“ – Nathan ist ein Menschenfreund; aber der Name Jude, den er in der Welt führt, und der einen so ungünstigen Anstrich über ihn verbreitet, läßt selbst, indem er den Menschen wohlthut, eine Art von Verachtung gegen die menschliche Natur durchblicken. Jeder Auftritt entwickelt mit Feinheit und Witz neue Schönheiten in diesen verschiedenen Charakteren; nur greifen sie nicht tief und lebhaft genug in einander, um das Ganze zu Einem großen rührenden Gemälde zu machen.
Ganz zuletzt entdeckt sich's, daß der Tempelherr und Nathans an Kindesstatt angenommene Tochter, Bruder und Schwester, und Saladins Bruderkinder sind. Die Absicht des Verfassers war ohnstreitig, in seiner dramatischen Familie das Beispiel einer ausgebreiteten Religionsverwandtschaft zu geben. Dieser philosophische Zweck, auf welchen das ganze Stück hindeutet, schwächt allerdings das theatralische Interesse. Ein Drama, dessen Augenmerk war, eine allgemeine Idee zu entwickeln, muß nothwendig, so schön und erhaben diese Idee an sich seyn mag, kalt seyn, und verirrt sich in das Gebiet der Fabel. Es stellt seine Personen nicht um ihrer selbst willen auf, sondern bloß der Belehrung, der Aufklärung wegen. Freilich giebt es keine Dichtung, nicht einmal einen wirklichen Vorfall, aus welchem sich nicht eine Idee abziehen ließe; nur muß die Begebenheit der Sittenlehre, nicht die Sittenlehre der Begebenheit zum Grunde dienen. In den schönen Künsten gebührt der Einbildungskraft der Vortritt.
Seit Lessing ist Deutschland mit Dramen überschwemmt worden; jetzt fängt man an, ihrer müde zu werden. Das Zwittergeschöpf, Drama genannt, verdankt sein Daseyn der großen Schwierigkeit, schulgerechte Tragödien zu schreiben; es ist bei uns eine Art von Schleichwaare, die in das Gebiet der Kunst eingeschwärzt wird; wo aber, wie in Deutschland, volle dichterische Handelsfreiheit verstattet ist, bedarf es nicht des Behelfes der Dramen, um einfache, natürliche Vorfälle auf die Bühne zu bringen. Dem Drama bliebe folglich nur der Vortheil, wie der Roman, wirkliche Lebensumstände, wirkliche Sitten der heutigen Welt zu malen; und auch hier, wo man unbekannte, erdichtete Namen auf der Bühne nennen hört, geht einer der größten Genüsse verloren, den die Tragödie geben kann, nemlich die Rückerinnerung an die Weltgeschichte. Man bildet sich ein, im Drama mehr Interesse zu finden, weil es uns vor Augen stellt, was wir täglich vor Augen haben; aber, in der Kunst, ist eine Nachahmung der uns zu nahe liegenden Wirklichkeit ohne Reiz. Das Drama verhält sich zur Tragödie wie die Wachsfiguren zu den Statuen; zu viel Wahrheit, zu wenig Ideal; zu viel, um für die Kunst, und bei weitem zu wenig, um für Natur zu gelten.
Lessing kann nicht in die erste Reihe der dramatischen Dichter gestellt werden; sein Geist hat sich mit zu vielen und verschiedenartigen Gegenständen beschäftiget, um in einem einzelnen Fach ein hervorstechendes Talent entwickeln zu können. Der Geist ist überall, ist universell; aber die natürliche Fähigkeit zu einer der schönen Künste ist nothwendig auf ein Fach beschränkt. Lessing war, vor allem, ein starker Logiker; Logik ist ein Hinderniß zur dramatischen Beredtsamkeit; denn die Empfindung verschmäht die Uebergänge, die Abstufungen, die Motive; sie ist eine beständige unwillkürliche Begeisterung, die sich keine Rechenschaft über sich ablegen kann. Lessing war nichts weniger als ein trockener Philosoph, hatte aber in seinem Charakter mehr Lebhaftigkeit als Tiefgefühl; das dramatische Genie ist abspringender, finsterer, einfallender, als es ein Mann seyn konnte, der den größten Theil seines Lebens der Betrachtung und dem Nachforschen gewidmet
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