Und dann der Himmel
eingerahmt von immergrünen Büschen, entdecke ich ein mannshohes Grabmal, an das ein steinerner Engel mit ausgebreiteten Flügeln lehnt. Die Trauer, die in seine Gesichtszüge gemeißelt wurde, ist so plastisch, dass ich sie förmlich spüren kann. Ungewollt streift mein Blick Rafael, der seine Flügel erneut unter dem Mantel meines Vaters verborgen hat.
„Es ist wirklich schön hier“, sage ich leise. „Du hattest Recht.“
In der Nähe eines Brunnens, auf dessen Podest ein steinerner Frosch hockt, halten wir erneut. Rafael lässt meine Hand los und deutet auf ein schmales Einzelgrab mit einem grauen, naturbelassenen Grabstein, der so unscheinbar ist, dass ich ihn übersehen hätte, wenn Rafael mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.
„Lies!“ sagt Rafael.
Mein Blick folgt seinem ausgestreckten Zeigefinger. Nur ein Name steht auf dem Stein, eingerahmt von einem Geburts- und einem Sterbedatum.
„Philipp Bartner“, lese ich laut vor, „geboren am 17.8.1971, gestorben am 3.4.2002.“ Es dauert einen langen Augenblick, bis ich begreife, dass hier einer meiner Ex-Freunde begraben liegt. Bittere Galle steigt mir plötzlich aus dem Magen hoch und ich renne hinter den nächsten Busch, um mich zu übergeben.
Es ist lange her, dass ich an Philipp gedacht habe. Die Erinnerung an die wenigen Wochen mit ihm hatte ich aus meinem Gedächtnis gewischt wie mit einem Schwamm, der eine Tafel von überflüssigen Kreidezeichen reinigt, damit etwas Neues, etwas Anderes darauf festgehalten werden kann. Selbst jetzt, da Rafael mich zwingt, an ihn zu denken, erscheint Philipp in meiner Vorstellung nur zweidimensional, ein Strichmännchen, das keine Tiefe hat. Er bleibt der Mann in Schwarz-Weiß, für den ich keine Grautöne übrig habe.
„Er hat es also geschafft“, sage ich tonlos zu Rafael. „Er hat sich zu Tode gefickt.“
Rafael schweigt oder will nicht antworten und ich lache schrill auf.
„Er war einsam“, erwidert Rafael schließlich und plötzlich klingt er sehr müde. Es sieht so aus, als wollte er etwas hinzufügen, aber dann überlegt er es sich anders und schweigt. Er braucht jedoch nichts zu sagen, die Worte formen sich von ganz allein in meinem Kopf; zwei kleine Worte sind es nur, doch sie führen mir mein Versagen unbarmherzig vor Augen: „Nach dir.“
„Du glaubst also, ich bin schuld?“ frage ich verunsichert.
„Ich bin nicht dein Richter“, sagt Rafael, aber dann merkt er, dass er sich mit dieser Antwort nicht davonstehlen kann, und schüttelt sanft den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht“, fügt er hinzu. „Auch nach dir gab es für ihn Möglichkeiten und Chancen, glücklich zu werden, aber er hat sie nicht genutzt.“
Ich atme erleichtert auf. Für einen Moment habe ich befürchtet, Rafael wollte mir die Schuld an Philipps Tod in die Schuhe schieben.
„Was soll ich dann hier?“ frage ich und spüre in meiner Stimme schon wieder eine gewisse Ungehaltenheit. Auch Rafael hört sie heraus.
„Du sollst dich an das erinnern, was du falsch gemacht hast, weil du im Begriff bist, den gleichen Fehler zu wiederholen“, weist er mich zurecht.
„Ich habe nichts falsch gemacht“, erwidere ich.
Rafael schweigt, schaut aber demonstrativ an mir herunter.
„Was ist?“ frage ich.
„Ich sehe mir deine Beine an“, antwortet er mit hoch gezogenen Augenbrauen. „Lügen haben kurze Beine!“
„Sehr witzig! Was, bitteschön, soll ich denn falsch gemacht haben? Ich kann mich nur daran erinnern, konsequent gewesen zu sein.“
„Ja“, nickt Rafael, „konsequent und hartherzig.“
Ich will protestieren und meine Handlungsweise verteidigen, denn immerhin habe ich nur das getan, was ich glaubte, tun zu müssen, aber während ich auf das Stück Erde starre, unter dem die sterblichen Überreste eines Mannes liegen, den ich einmal geliebt habe und auf dem jetzt ein paar jämmerliche Plastikrosen in einer Vase dahinvegetieren, kommt kein Wort über meine Lippen. Stattdessen erwacht das Strichmännchen in meinem Kopf zum Leben, erhält Schärfe und Tiefe und füllt die Schwarz-Weiß-Bilder meiner Erinnerung mit Farbe aus.
Schon die Art und Weise, wie Philipp und ich uns kennen lernten, hätte mich warnen sollen. Jemand, der auf einem Bürgersteig herumkriecht, um die Reste aus einer zerbrochenen Nasensprayflasche zu schniefen, hat nicht nur ein Suchtproblem, sondern auch einen massiven Realitätsverlust und keinerlei Selbstachtung. Jemand, der sich bei einer solchen Lappalie die Wahrheit nicht
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