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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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begreifen oft intuitiv, was wir meinen. Andere Erwachsene haben mehr Mühe.
    Unser Familienleben hat Vor- und Nachteile. Die menschliche Anteilnahme tut gut. Wenn ich von der Entführung erzähle und mit den Tränen kämpfe, dann zeigen die Frauen ihr Mitgefühl, auch wenn sie nicht wirklich begreifen können, was diese Gefangenschaft für uns bedeutet, sind sie doch selbst in diesem Hof gefangen. Trotzdem wird Amour eines Tages ihren Sohn zurechtweisen, eine so lange Gefangenschaft sei nicht gerechtfertigt. Das sei alles Walis Schuld, wird der Sohn kleinlaut erwidern. Andererseits sind mir die Frauen in ihrem Denken fast unheimlich. Als sie mir von Selbstmordattentäterinnen vorschwärmen und ich meine Ablehnung zeige, sind sie empört.
    Auch die Tatsache, dass niemand außerhalb des Hofes von unserer Anwesenheit erfahren darf, sorgt für Probleme. Wenn Besuch kommt, werden wir weggesperrt, manchmal mehrere Tage lang. Wir dürfen keinen Laut von uns geben, können nicht auf Toilette gehen. Da wir auch bei Dumbo fast ständig Durchfall haben, müssen wir manchmal unser Geschäft in eine Tüte verrichten, und dies in Anwesenheit des anderen. David versucht mich zu trösten, doch ich fühle mich erniedrigt und ohnmächtig.
    Dumbo schläft, wenn ihn nicht gerade der Hunger an den Kühlschrank treibt, vor unserer Tür, an die er sich mit einem Kabel gebunden hat, damit wir nicht davonschleichen können.
    Wir sind von Basar und Innenstadt so weit entfernt, dass wir den Alltagslärm und die Schusswechsel nur als Nachhall wahrnehmen, andererseits sind wir auch von der täglichen Kommunikation abgeschnitten. Wir geben Dumbo Briefe mit Zeichnungen für Nazarjan mit, wenn er auf den Basar fährt, Zeichnungen, die unsere Sorgen und Ängste darstellen, und in denen wir bitten, er möge uns aufsuchen und über die weiteren Pläne informieren.
    Immer lauschen wir auf das Geräusch von Dumbos Moped, das sich unter seinem Gewicht über Schleichwege heranquält. Dann beginnt er wie entfesselt zu hupen, die großen Kinder rennen zum Tor und versuchen, die schweren Flügel zu öffnen, die knarren und quietschen. Dumbo rollt in den Innenhof, dreht eine Runde, nimmt manchmal eines der Kinder, manchmal mich mit auf den Sattel und lässt sich bejubeln.
    Dann parkt er sein Moped vor unserem Zimmer und befiehlt einem der Kinder, seine Schlappen zu holen. Ich frage, ob Nase kommen wird, er läuft davon, sagt, er müsse beten, er sei spät dran. Ich rufe noch einmal: »Kommt Nazarjan?«
    »Inschallah, morgen.«
    Es vergehen sechsundneunzig Stunden, in denen wir uns wieder und wieder die Frage stellen, ob sie uns vergessen haben, ob die Verhandlungen gescheitert und wir zum Sterben verurteilt sind. Sechsundneunzig Stunden, in denen wir minütlich auf die Uhr sehen, hinaushorchen in die Landschaft, auf Dumbos Mopedmotor warten.
    Am fünften Tag gebe ich die Hoffnung auf. Ich schleppe mich ins Zimmer, wo David sitzt und apathisch auf den Boden starrt. »Sie lassen uns hier verrecken, David«, sage ich.
    »Ja, ich weiß«, antwortet er.
    Doch am selben Abend kommt Nase plötzlich. Er erkundigt sich, nach dem üblichen Begrüßungs-, Gebets- und Essenszeremoniell, wie wir mit unserer Unterbringung zufrieden seien, wie wir das Bombardement erlebt hätten. Uns interessiert nur eine Frage – wie immer. Er meint, in einer Woche müsste die Antwort aus Islamabad eintreffen. Er werde nach etwa fünf Tagen wiederkommen.
    »Bald ist Weihnachten«, sage ich, »bis dahin wollen wir unbedingt zu Hause sein. Ich finde, wir haben Geduld bewiesen, wir sind schon viereinhalb Monate hier, wir können nicht mehr. Lass uns gehen.«
    »Nein, das geht nicht, aber sör, sör, sör (schnell), inschallah.« Nase hat unsere Lieblingsfrüchte, Granatäpfel, mitgebracht und gibt uns wenigstens das Gefühl, im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu stehen. Doch dieses Gefühl ist trügerisch. Gemessen an der Durchschnittsbildung der FATA -Bewohner ist Nase ein kluger, einfühlsamer Mensch, doch sobald er unser Zimmer verlassen hat, trägt er sich mit anderen Gedanken. Mit Kampfstrategien, der Befreiung von Glaubensbrüdern, dem nahenden Winter und der Kälte in den Notunterkünften. Als die Sprache darauf kommt, dass wir in all den Monaten nur ein einziges Mal nach Hause telefonieren konnten, ist er sichtlich verstört. Wir auch, denn wir denken, dass ihm eine so fundamentale Tatsache hätte bewusst sein müssen.
    Zwar ist das Leben in unserer neuen Umgebung

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