Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Zeugenaussage, die ihn belastet. Bringt ihn nach Hause zurück, und nehmt Shak fest. Aber achtet darauf, dass die beiden nicht miteinander sprechen können. Steckt ihn in den Arrestblock. Er kriegt keinen Besuch, niemand kümmert sich um ihn, niemand wechselt auch nur ein Sterbenswörtchen mit ihm, die ganze Nacht nicht und morgen auch nicht. Übermorgen Abend ist er so weit, dass er reden will. Und dann bin ich da, um zuzuhören.«
Als er die Planke betrat, um das Boot zu verlassen, rief Sharma hinter ihm: »Wie heißt Ihre Frau, Commissaris?«
Van Leeuwen antwortete nicht und drehte sich auch nicht um.
»Ist sie eine gute Frau? Erzählen Sie ihr von mir!«, rief Sharma. Jetzt drehte sich Van Leeuwen um. »Das werde ich nicht tun«, sagte er.
22
Es war seine Schuld; alles war allein seine Schuld. Erst hatten die Polizisten Mira abgeholt, dann seinen Vater und jetzt seinen Bruder, und er wusste, dass es seine Schuld war, auch wenn alle sagten, er könnte nichts dafür, sogar Shak.
Er saß auf dem Dach der Halle in der Nacht und dachte, dass es vielleicht besser wäre, er wäre tot.
Er war allein, kein Mensch weit und breit, nicht einmal eine Möwe oder ein Fischreiher. Hier konnte er am besten nachdenken, wenn es nötig war, über alle Menschen, die er kannte. Er saß auf dem Dachfirst, ganz hoch oben, und der Wind wehte ihm die Haare indie Stirn. Von hier aus konnte er alles sehen, die Dächer der anderen Hallen und die beleuchteten Schiffe auf dem IJ und die Lichter der Stadt jenseits des Wassers. Er konnte die Züge sehen, die über den Bahndamm und die Brücken fuhren und die Fähren und die Autos auf den Uferstraßen.
Meistens saß er hier mit Shak, aber einmal war er auch mit Amir oben gewesen, nur einmal. Amir war tot, und Pamit dachte, auch das könnte seine Schuld sein. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, was in der Nacht passiert war, in der Amir – in der er nicht zurückgekommen war. Es wäre besser gewesen, er hätte hier oben den Halt verloren und wäre zur Dachkante runtergerutscht und dann in die Tiefe gestürzt, zu Tode. Dann hätte niemand Schuld gehabt. Aber er wollte nicht an Amir denken, denn dann wurde er traurig, und alles in ihm geriet durcheinander.
Er drehte sich um. Auf der anderen Seite lagen die Baustelle und der Schrottplatz mit den wilden Hunden, und dahinter konnte man tagsüber noch Bäume und Kanäle erkennen. Davor war nur die Straße, die dicht an der Halle vorbeilief, genau unter dem Fenster zur Feuerleiter. Die Leiter führte zum Dach hinauf, und wenn man sie kippte, konnte man darauf auch zur Straße hinunterklet-tern; oder man konnte den vorbeifahrenden Autos aufs Verdeck spucken.
Die Baustelle und den Schrottplatz mochte Pamit genauso gern wie die Stadt, fast noch lieber sogar. Er stellte sich vor, dass er den ganzen Müll und das Alteisen wegschaffte, alles bis auf die Planierraupe, und dort dann einen richtigen Palast errichten würde, für Menschen, nicht nur für Gewürze. Er sah ihn vor sich: weiß und groß und prunkvoll, mit schlanken Türmen und geschwungenen Torbögen, mit farbigen Glasfenstern, einer goldenen Dachkuppel und einem künstlichen See. Er sah die Palmen im Garten und die Fische in dem blauen Wasser und Pfauen mit bunten Rädern und rosa Flamingos und sogar einen zahmen Tiger, der unruhig hinter dem eisernen Tor hin und her strich.
Er hatte den Palast in Gedanken bereits entworfen. Er wollte darin mit Shak und seinem Vater und Mira leben; oder vielleichtgab es auch nur einen unterirdischen Tunnel zwischen seinem Zimmer und dem Palast, darüber musste er noch nachdenken.
Wenn nur sein Vater nicht so böse auf Mira wäre, und Mira auf Shak. Pamit legte den Kopf in den Nacken. Es war ein schwindelerregendes Gefühl, als drehe der Himmel sich über ihm, mitsamt dem blassen Mond und den Sternen, die immer mehr wurden, je länger er hinsah. Er schloss die Augen und hielt sich mit beiden Händen fest. Mit Shak hatte er manchmal hier gesessen und leise gesungen, Lieder aus der Heimat, Lieder aus Filmen. Sein Bruder konnte sogar die Worte, nicht nur die Melodie.
Shak war gut zu ihm. Mira war auch gut zu ihm. Und sein Vater. Seitdem das mit Amir passiert war, schienen sie ihn alle noch lieber zu haben. Aber zueinander waren sie böse; sie weinten und schrien sich an.
Er hätte jetzt gern gesungen. Alle Lieder, die er kannte, schwebten in seiner Brust und warteten darauf, ihm auf die Zunge zu steigen, manchmal der Anfang, manchmal etwas aus der
Weitere Kostenlose Bücher