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Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Titel: Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Mitte. Bloß, wenn er allein hier oben war, brachte er keinen Ton heraus, nur blöde Laute, die nach nichts klangen. Er spürte, dass die Sohlen seiner Turnschuhe rutschten, und öffnete rasch die Augen. Sein Magen war plötzlich weich und spinnwebhaft geworden.
    Er hielt sich mit einer Hand weiter fest, mit der anderen holte er eine zerdrückte Zigarette aus der Tasche seiner schwarzen Hose. Es war eine von den Zigaretten, die Amir sich manchmal gedreht hatte, und wenn man sie rauchte, wurde einem ganz seltsam im Kopf, als würde er immer leichter. Erst musste er husten, aber dann atmete er den Rauch nicht mehr ein, und es ging besser.
    Er hörte jemanden schreien, unten im Hof. Es war kein lauter Schrei, mehr so, wie wenn sich jemand dabei die Hände auf den Mund presst. Rasch drückte Pamit die Zigarette aus und sah zu, wie sie die Metallschräge hinunterrollte bis in die Regenrinne. Dann glitt er vom First und rutschte ebenfalls zur Rinne hinunter, vorsichtig, auf Handballen und Turnschuhsohlen. Als er die Dachkante erreicht hatte, legte er sich der Länge nach hin und schob den Kopf über die Regenrinne.
    Von seinem Platz aus sah er genau auf den Wohnwagen seines Vaters, dessen Tür offen stand. Der ganze Hof lang im Dunkeln, aber die Fenster des Trailers waren erleuchtet, und aus der Tür fiel etwas Licht, und in dem Licht kniete Mira vornübergebeugt auf dem Asphalt und gab die komischen Schreie von sich. Wenn sie nicht schrie, rief sie: »Bitte ... Bitte ...! Ich liebe dich ... Ich liebe dich doch!«
    Jetzt erkannte Pamit seinen Vater in der Tür, Radschivs Schatten fiel auf Mira, und seine Stimme antwortete ihr: »Ich habe dich auch geliebt, ja, ich habe dich geliebt! Aber du hast meinen Sohn verraten, du hast Shak verraten, und deswegen will ich dich hier nicht mehr sehen! Ich will dich nie mehr sehen!«
    »Ich gehe nicht«, rief Mira zwischen den komischen Schreien, »ich bleibe hier, ich gehöre zu dir, zu Pamit. Du kannst mich nicht einfach vertreiben!«
    »Am Ende wirst du gehen«, sagte sein Vater mit der hellen, harten Stimme, die er immer hatte, wenn er böse war, »du wirst gehen, weil ich es will. Und bis dahin wird es schon so sein, als wärst du nicht mehr hier. Du bist vielleicht da, aber ich werde dich nicht sehen, und ich werde dich nie wieder berühren. Bei deinem Anblick wird mir das Blut in den Adern zu Asche!«
    Damit wandte Radschiv Sharma sich ab, verschwand im Inneren des Trailers und schloss die Tür. Mira blieb im Dunkeln auf dem Asphalt knien, vornübergebeugt, bis ihre Stirn fast den Boden berührte. Nur ihre Schreie wurden allmählich leiser, und dann weinte sie nur noch.
    Pamit begriff nicht, was da unten geschah. Aber es tat so weh wie das, was damals in der Nacht mit Amir passiert war. Ihm wurde schwindlig, und sein Herz klopfte wieder so laut und schnell, dass er zitterte.
    Es war bestimmt seine Schuld.

23
    Die Brücke führte in einem weit geschwungenen Betonbogen zwischen den Häusern der Innenstadt von Noord Eiland über das Wasser zum anderen Ufer der Maas. Die beiden dunkelroten Stahlträger der Brücke spreizten sich zu beiden Seiten der Fahrbahnen wie die kantigen Beine eines Riesen ohne Oberkörper. Der Asphalt glitzerte feucht. Die Straßenlampen brannten noch, aber der Himmel wurde langsam heller, erst grau, dann rosa wie Polarlicht, und dann war der Tag da. »Geht einem durch und durch, nicht?«, sagte Hoofdinspecteur Gallo. »So schön, dass es wehtut.«
    Van Leeuwen sagte nichts. In kleinen Schlucken trank er den heißen Kaffee aus der Verschlusskappe der Thermoskanne. Er dachte, dass jeder anbrechende Tag einen winzigen Moment vollkommener, überraschter Unschuld zu haben schien, der einem vor Augen führte, wie schön die Welt sein konnte, selbst an einem Ort wie Rotterdam.
    Der Zoll hatte seine Büros auf dem Hafengelände, und das Hafengelände war so groß wie eine kleine Stadt. Die Stadt erstreckte sich zu beiden Seiten der Maas, von dort, wo der Fluss in die Nordsee mündete, noch viele Kilometer ins Hinterland hinein. Es war eine Stadt fast ohne Menschen. Sie bestand aus dunkelroten Pipelines, blendend weißen Öltanks und silbernen Raffinerieanlagen; aus schwarzen Lagerhallen, kühn geschwungenen Brücken und in der Sonne gleißenden Bürohochhäusern. Breitbeinig an den Kais aufragende Kräne schwenkten ihre Ausleger von den Laderäumen der Ozeanriesen zu Gabelstaplern, Güterwaggons und Lastwagen. Vollautomatische Rangierloks zogen endlose Tankzüge

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