Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
ihrer letzten Begegnung in Erinnerung hatte, und die Augen waren gerötet. Das blonde Haar bedurfte einer Wäsche, nur der Schnurrbart hielt auch einer kritischen Betrachtung stand.
Die Schreibtischlampe brannte, und die Jalousien mit den vertikalen Lamellen waren halb geschlossen. Der Aschenbecher neben dem Telefon verbreitete den schalen Geruch kalter Zigarettenkippen. Ein mit getrockneten Schaumresten verklebtes Bierglas glomm im Licht der Schreibtischlampe. Statt des in Büros dieser Art üblichen zweiten Schreibtischs gab es eine aufgeklappte Campingpritsche mit einer nachlässig zusammengelegten Decke. An einem Haken neben einem weißen Aktenschrank hing auf einem Drahtbügel die frisch geplättete Uniform eines Zolloffiziers der Königin. Auf der anderen Seite des Schranks zeigte eine große Karte die Welt mit den Kontinenten in verschiedenen Farben und mit sämtlichen Meeren. Vor dem großen Fenster entfaltete sich das Hafenpanorama, die nahen und fernen Kräne, die Lagerhallen, die Bürogebäude und Öltanks.
Hoofdinspecteur Dekker starrte auf den Bildschirm eines Notebooks, über den die bunten Röntgenbilder durchleuchteter Containertrucks glitten. Er hob nur kurz den Blick. »Was wollen Sie denn schon wieder? Ich habe nur wenig Zeit.« Ein erhitzter, feuchter Geruch schien von ihm auszugehen wie von einem eben gelöschten Feuer.
»Es besteht da weiter eine kleine Unstimmigkeit in den Aussagen im Mordfall Amir Singh, Hoofdinspecteur«, sagte der Commissaris. »Bezüglich der Anwesenheit von Singh während der Razzia auf dem Gelände von Sharma & Sons . Entgegen Ihren Angaben behauptet Radschiv Sharma auch jetzt noch, Singh sei am Morgen der Durchsuchung noch gar nicht bei ihm beschäftigt gewesen, sondern erst am Tag danach aufgetaucht.«
»Na und, dann steht eben Aussage gegen Aussage.« Dekker sah noch immer nicht auf. »Was spielt das denn für eine Rolle, ob er vor oder nach der Razzia bei den Sharmas angefangen hat?«
Der Commissaris sagte: »Wenn er nicht dabei war, als die Razzia durchgeführt wurde, kann sie ihn auch kaum so erschreckt haben, dass er zu Ihnen gekommen wäre, um sich Ihnen als Informant anzubieten. Dann haben Sie gelogen und nicht die Sharmas. Und wenn Sie gelogen haben, dann müssen wir uns fragen, warum.«
Dekker seufzte. »Ich habe es nicht nötig zu lügen. Fragen Sie Inspecteur De Vries oder Inspecteur Ten Hart, die werden Ihnen bestätigen, dass dieser Singh auf dem Gelände war.«
Gallo notierte den Namen Ten Hart auf einem kleinen Notizblock. Jetzt blickte Dekker doch auf, und seine Augen waren so kalt, als hätte sich die Temperatur in seinem Kopf bei sieben Grad über null eingependelt, während sein Körper weiter die feuchte Hitze produzierte.
»Und wenn wir einen der anderen Beamten fragen, die mit Ihnen die Razzia durchgeführt haben?«, erkundigte Gallo sich.
Das Telefon auf Dekkers Schreibtisch summte, aber er nahm den Hörer nicht ab. Eins der Lämpchen in der Tastatur begann zu blinken.
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«, fragte Dekker. »Glauben Sie diesem indischen Gewürzkrämer mehr als mir? Singh konnte der Versuchung, ihm den Stoff zu stehlen, nicht widerstehen – bedauerlich, aber nicht verwunderlich bei seiner Vorgeschichte –, und dafür hat Sharma ihn umgebracht, entweder allein oder mit seinen Söhnen. Sogar sein Mercedes ist am Tatort gesehen worden, was wollen Sie denn noch?«
»Der Wagen ist gesehen worden?«, fragte der Commissaris. »Das ist mir neu. Von wem denn? Bisher haben wir nur von der Spurensicherung einen Hinweis auf einen roten Mercedes Baujahr 2000, Besitzverhältnisse und Verbleib gleichermaßen ungeklärt.«
Dekker zuckte mit den Schultern. »Aber Sharma hatte einen solchen Mercedes, oder nicht?«
»Es geht um Folgendes, Hoofdinspecteur Dekker«, sagte derCommissaris ruhig. »Wenn Amir Singh sich nicht aus freien Stücken bei Ihnen gemeldet hat, dann haben Sie ihn genötigt oder dazu erpresst, für Sie als Informant zu arbeiten und die Sharmas zu bespitzeln. Und wenn das so ist, haben Sie einen Ihnen bekannten Drogensüchtigen, der nach verbüßter Haftstrafe erfolgreich rehabilitiert war, unter Druck gesetzt, mit dem Resultat, dass er wieder rückfällig geworden ist. Sie haben ihm gedroht, ihn ausweisen zu lassen, wenn er nicht für Sie den Spitzel spielt. Sie haben seine Freundin massiv bedroht, vielleicht sogar geschlagen, damit sie über Ihr Vorgehen Stillschweigen bewahrt. Das alles sind Straftaten,
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