Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
aber jetzt ist er mein Hauptverdächtiger geworden, undweißt du, warum? Weil er ein schlechter Mensch ist, abgrundtief schlecht. Erinnerst du dich noch an Joseph Conrad, den Schriftsteller? An sein Buch Herz der Finsternis ? Ich komme mir vor, als hätte ich heute diese Reise gemacht, ins Herz der Finsternis.«
Sie drehte den Kopf in seine Richtung, aber ihre Augen blieben geschlossen.
»Deswegen musste ich dich so spät noch sehen«, ergänzte er. Für einen Moment schien sie den Atem anzuhalten. Ihre Lider flatterten leicht.
»Ich habe deinen Brief gefunden«, sagte er. »In dem Koffer unter dem Bett. Der Koffer, erinnerst du dich?«
Sie öffnete die Augen und sah ihn direkt an, ohne Übergang vom Schlaf zum Wachen. Ihr Blick leuchtete, sie schien zu lächeln. Ganz unvermittelt wirkte sie aufgeregt und glücklich, auf eine unnatürliche Weise, wie ein Kind, das sich einer verlockenden Gefahr aussetzt. Lange, seit über einem Jahr hatte Van Leeuwen sie so nicht mehr gesehen, und da wusste er, dass sie bald sterben würde, auch wenn es ganz und gar nicht danach aussah. Die gesunde Röte ihres Gesichts rührte vom Fieber, und das Lächeln war gar kein Lächeln, sondern etwas, das die Lungenentzündung mit ihrem Mund machte.
Warum dauert das so lange? , hörte er sie mit plötzlicher, überraschender Klarheit fragen.
Damit wir noch etwas zusammenbleiben können , antwortete er und streichelte ihren Handrücken mit dem Daumen.
Sie zog ihre Hand weg und schob sie fast zornig unter die Decke. Aber ich will nicht mehr , sagte sie heftig, ich will nicht mehr. Es dauert so lang.
Er spürte, wie ihm etwas kalt ins Herz schoss, und er musste sich bemühen, nicht wütend zu werden. Er durfte nicht wütend werden, weil er dazu kein Recht hatte; es war ihr Leben, das zu Ende ging.
Als könnte sie spüren, wie verletzt er war, sagte sie: Weißt du, ich habe keine Angst – nur davor, nicht mehr mit dir zusammen zu sein. Aber so, wie es jetzt ist, ist es doch kein Zusammensein.
Sie hat recht, dachte er. Er war es, der Angst hatte; er musste sichselbst trösten. Ich komme und besuche dich da, wo du hingehst , sagte er. Genau wie hier.
Träum nicht von ungehobenen Schätzen , sagte sie. Sie schloss die Augen, und jetzt erschien es ihm, als hätte sie die Augen die ganze Zeit geschlossen gehabt und auch nichts gesagt, nur schwer und unruhig geatmet. Er hielt noch immer ihre Hand.
Nach ein paar Minuten stand er auf, zog sein Sakko wieder an und ging zur Tür. Dort blieb er noch einen Moment stehen und sah sie an, als könnte sie doch noch die Augen aufschlagen, aber nichts geschah. Schließlich stieß er mit ungeduldiger, zorniger Entschlossenheit die Tür auf. Du musst jetzt loslassen, dachte er. Es gibt eine Zeit zum Festhalten und eine Zeit zum Loslassen. Es gibt auch eine Zeit für Gebete, sogar für Drohungen und Erpressungen, aber dies ist weder der Tag noch die Stunde. Dies ist der Moment zum Loslassen, und du kannst froh sein.
Wenn es nur nicht so verdammt wehtäte.
Langsam ging er den schwach beleuchteten Korridor vor der Krankenstation entlang. Es kam ihm vor, als marschiere er am Rand eines Abgrunds, der die Erde zwischen ihm und Simone gespalten hatte, auf der Suche nach einem Steg zur anderen Seite, den es nicht mehr gab.
Brigadier Tambur kauerte vor seiner Wohnung auf der obersten Stufe der steilen Treppe. Sie schien eingenickt zu sein, denn ihre Augen waren geschlossen, und ihr Kopf lehnte an der Wand neben der Tür. Die Beine in den dunkelblauen Jeans waren zur Seite gefallen, die Knie angezogen. Sie trug einen bordeauxroten Rollkragenpullover, eine schwarze Lederjacke und hellgrüne Stiefeletten. Die Arme klemmten zwischen den Oberschenkeln. Auf dem Treppenabsatz hinter ihr lag ein Hut mit einer breiten Krempe. Er beugte sich zu ihr hinunter, packte sie an der Schulter und schüttelte sie. »Was machst du denn schon wieder in meinem Treppenhaus?«, fragte er schroff.
»Ich lebe in Treppenhäusern«, antwortete sie schlaftrunken. »Meistens jedenfalls.«
»Ich frage nicht noch einmal«, sagte Van Leeuwen.
»Ich wollte Sie besuchen.«
»Warum?«
»Ich habe Ton Gallo angerufen, weil ich wissen wollte, was euer Abstecher nach Rotterdam gebracht hat. Er hat mir erzählt, dass Sie noch zu Ihrer Frau ins Heim gefahren sind.« Sie rieb sich die Au-gen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »War es schlimm heute?«
»Es ist immer schlimm.«
»Wollen Sie mit mir darüber reden?«
»Nein«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher