Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Van Leeuwen und setzte sich zu ihr auf die Stufe. »Sie hat eine Lungenentzündung gekriegt.« Das Etagenlicht ging aus, aber keiner von ihnen stand auf, um es wieder anzuschalten. »Die Krankheit hat jetzt das Endstadium erreicht und das Schluckzentrum im Gehirn angegriffen. Wenn es so weit ist, verschluckt sich der Patient immer wieder, und dabei geraten dann Essenspartikel in die Lunge, manchmal auch Erbrochenes. Das Zeug verstopft kleine Zweige der Lunge, sodass sie beim Atmen nicht mehr durchlüftet werden, und in der Feuchtigkeit entwickelt sich eine Entzündung.«
Es war so dunkel im Treppenhaus, dass er Julika kaum sehen konnte, aber er spürte ihre Nähe und roch ihr Parfum, ein leichter, süßer Duft mit einem Hauch von Zimt. Seit wann redest du mit anderen über den Zustand deiner Frau?, fragte er sich. Seit wann wirst du damit nicht mehr allein fertig? Aber wenn er über sie sprach, sah er sie noch deutlicher vor sich, als wenn er nur an sie dachte. Seine Gedanken drehten sich oft im Kreis. Wenn er redete, kamen ihm dagegen manchmal neue Gedanken. Gedanken wie dieser: Ob du sie auch so lieben würdest, wenn sie nicht krank geworden wäre? Hatte ihre Krankheit ihn vielleicht abhängig gemacht, ihn fester an sie gekettet, als das eheliche Liebe bei einem Mann seines Alter üblicherweise konnte?
»Ist doch egal, warum man jemanden liebt«, sagte Julika.
Aus der Wohnung unter seiner drang leise Klaviermusik. Hatte er etwa laut gedacht? »Wahrscheinlich«, sagte er. »Und jetzt verschwinde, bevor ich dich die Treppe runterwerfe.«
Julika stand auf und griff nach seiner Hand, so sicher, als hätte sie Katzenaugen. »Kommen Sie«, sagte sie.
»Wohin?«
»Ich will Ihnen etwas zeigen. Wie andere Menschen leben.«
»Wenn ich sehen will, wie andere Menschen leben, schaue ich mir ein Gemälde von Goya an.« Van Leeuwen stand ebenfalls auf, entzog ihr seine Hand und holte den Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche. »Geh nach Hause, Brigadier Tambur. Ich habe noch zu arbeiten.«
Er war froh über die Dunkelheit, so musste er ihr nicht ins Gesicht sehen. Er hatte Angst vor dem, was er dort vielleicht finden würde. Ohne Licht zu machen, sperrte er die Wohnungstür auf, trat über die Schwelle und schloss die Tür wieder hinter sich. Schon auf der Rückfahrt aus Amsterdam hatte er einen Gedanken gehabt, der ihn seither begleitete. Er knipste die Lampe auf der Telefonkonsole an und ging in sein Arbeitszimmer, wo er den Katalog einer Goya-Ausstellung aus dem Regal zog. Im Inhaltsverzeichnis fand er das Bild, das er gesucht hatte: eine Tapisserie mit dem Titel Die Tabakzöllner .
Die Abbildung zeigte eine Handvoll bewaffneter Männer bei einer Rast im felsigen spanischen Hochland, die Hände unter den bunt verzierten Harnischen verborgen, eine Muskete griffbereit gegen einen Felsen gelehnt. Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über der Szene, die trotzdem etwas Zwielichtiges hatte. Einer der Männer, vielleicht der Anführer, stand breitbeinig mit dem Rücken zu einer Schlucht; sein Gesicht spiegelte Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit. Ein heller Schnurrbart zierte seine Oberlippe. Senffarben , dachte Van Leeuwen überrascht. Dann dachte er: eine Rast oder ein Hinterhalt .
Er las, was Goya bei Rechnungstellung an die Tapisseriemanufaktur in Madrid im Januar 1789 dazu geschrieben hatte: Abgebildet sind insgesamt fünf Männer, Zollaufseher über die Tabakerträge. Zwei bequem sitzende Männer und ein stehender Mann sind in eine Unterhaltung vertieft. In der Entfernung erkennt man an einem Flussufer zwei weitere Zöllner. Zwei der Männer sind mit sämtlichen Waffen ihres Berufsstandes ausgestattet.
Van Leeuwen blätterte weiter, suchte zusätzliche Erläuterungen.
Der Staat besaß das Tabakmonopol, las er, und der Preis wurde künstlich hochgehalten. Der Schmuggel aus Portugal und Gibraltar blühte. Der spanische Tabak kam aus Havanna, wurde in Sevilla verarbeitet und von dort verschickt. Immer wieder kam es zu Überfällen auf die Transporte. Berüchtigt war das bergige Grenzgebiet zwischen Andalusien und Kastilien, wo Räuber und Schmuggler nur allzu häufig mit den Tabakzöllnern unter einer Decke steckten.
Er betrachtete noch einmal das Gesicht des stehenden Zöllners. Abgesehen von dem Schnurrbart hatte es wenig äußere Ähnlichkeit mit Hoofdinspecteur Dekker, aber das, was von seiner Seele durchschien, dafür umso mehr.
Er las weiter: Auf seinem Karton zeigt Goya Tabakzöllner, deren Anblick
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