Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
können, und es wäre noch am selben Abend mit mir ins Bett gegangen.« Er klang wie ein Angeber, aber das war egal. Wie alles andere spielte es keine Rolle mehr. »Bloß, dass ich es nicht getan habe.«
Julika sagte nichts, nur ihr Atem veränderte sich kaum merklich.
»Es gibt massenweise billige Frauen, natürlich, aber die haben mich nie interessiert«, fuhr er fort. »Es gibt Frauen, die unzugänglich sind, und das wird mir innerhalb von fünf Minuten klar. Dann gibt es Frauen, die könnte man morgen Nacht haben, aber nicht heute Nacht. Auch das weiß ich sofort. Es gibt Frauen, die sich aus irgendeinem falschen Grund hergeben und sich deswegen grässlich fühlen am nächsten Morgen. Es gibt Mädchen, die eine Narbe fürs Leben davontragen, nur weil sie einem momentanen menschlichen Impuls nachgeben ... Schließlich gibt es da noch die Mädchen, denen alles egal ist ...«
»Und welches von diesen Mädchen bin ich?«, fragte Julika.
Van Leeuwen antwortete nicht. Nach einer Weile sagte er: »Es gab immer nur Simone. Ich wollte nie eine andere haben.« Auch jetzt ließ Julika seine Hand nicht los.
»Sie war so tapfer«, sagte er. »Sie hat gekämpft, und dabei war es verflucht hart für sie. Viel härter als für mich. Und ich kann nicht mal um sie weinen.«
»Dazu ist es vielleicht noch zu früh«, sagte Julika leise.
»Dazu ist es nie zu früh«, sagte er. »Es ist so viel verschwunden mit ihr, so viel, um das ich trauern können müsste, und ich kann’s nicht.«
»Das tun Sie doch. Sie trauern doch, Sie sind nur zu durcheinander, um es zu merken.«
Sie lagen nebeneinander auf dem Bett und hielten sich bei der Hand, und die Wohnung war so still, wie er sie noch nie erlebt hatte. Es war nicht still im Haus, und auf der Straße war es auch nicht still, aber die Wohnung hatte alles eigene Leben verloren. Irgendwann sagte Julika: »Wenn Sie wollen, gehe ich jetzt.«
Es war so dunkel geworden, dass Van Leeuwen nur ihre Silhouette sah.
»Nein. Bleib, bitte. Geh jetzt nicht.«
31
Hoofdinspecteur Ton Gallo saß in dem rot-weiß gestreiften Liegestuhl auf dem Vorderdeck der Riki Tiki Tavi und dachte über das schwarze Loch nach. Er hatte die Theorie entwickelt, dass sich in jedem Leben irgendwann ein schwarzes Loch auftat, in dem fast alles verschwand, was man bis dahin erfahren und gelernt hatte. Es war auf einmal da und veränderte die gesamte Existenz, und wenn man nicht sehr aufpasste, verlor man erst den Anschluss an das eigene Leben und dann sich selbst darin. Man wurde hineingesaugt und tauchte nicht wieder auf, wie bei den schwarzen Löchern im Weltraum, den implodierten Planeten, deren Sog nichts und niemand widerstehen konnte.
Aber auch wenn man nicht davon verschluckt wurde, blieb es immer da. Man lebte weiter, verrichtete seine Arbeit, ging jeden Abend zu Bett und stand am nächsten Morgen wieder auf, aber ganz vergessen konnte man es nie, man speiste es mit seinem eigenen Herzschlag. Es pulsierte und wartete, und manchmal, wenn man am wenigsten damit rechnete, tat es sich auf, und man stürzte mittenhinein. Es konnte ein Mensch sein, der dieses Loch ins Leben riss – ein Kind, das starb; eine Frau, die einen verließ, oder ein Mann. Eltern, die ihr Kind missbrauchten. Ein plötzlicher Überfall, eine Vergewaltigung, der Einsatz an der Front eines sinnlosen Krieges.
Gallo hatte gehört, dass Simone gestorben war, gestern Abend, und seitdem versuchte er, Bruno anzurufen, und weil Bruno sein Handy ausgeschaltet hatte und auch zu Hause die Leitung tot war, wusste Gallo, dass er tief in dem schwarzen Loch steckte. Der Hoofdinspecteur saß in dem rotweiß gestreiften Liegestuhl auf dem Vorderdeck seines Hausboots, trank Bier aus der Dose und merkte, wie er in sein eigenes Loch hineinzustolpern drohte. Aus dem Wohnraum hinter ihm drang leise Musik, eine Gitarre und eine Rhythmusgruppe, Django Reinhardt spielte Nuages . Die Nacht war warm und still und klar. Es gab keine Wolke am Himmel; die nuages trieben nur auf der Schallplatte dahin, kleine gezupfte bunte Fetzen, süß wie Zuckerwatte.
Gallo wusste, was das schwarze Loch Polizisten antun konnte. Er dachte jetzt nicht an die, die sich zu Tode tranken oder an Krebs starben. Er dachte an ein jähes, gewaltsames Ende, weil jemand es nicht mehr ertrug, weiterzuleben mit dem Loch dicht vor oder hinter sich. Er dachte an die, die sich erschossen oder erhängten oder aus dem Fenster sprangen. Anwälte wurden Alkoholiker, Ärzte wurden tablettensüchtig,
Weitere Kostenlose Bücher