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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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ja nicht. Vielleicht führte er sie an der Nase herum. Oder vielleicht wusste sie es und es war ihr egal. Ihm fiel etwas von einem Schlüssel ein. Ein Gerücht in der Nachbarschaft, dass Jane den Tätern den Hausschlüssel gegeben hatte. Er hatte das keinen Augenblick lang geglaubt. Jetzt war er sich nicht mehr sicher. Vielleicht hatte sie wirklich einem der Täter den Schlüssel gegeben, vielleicht diesem Jungen, der mit ihr im Laden war.
    In diesem Augenblick sah er, wie der Junge in einem Gang zwischen den Verkaufsregalen zu ihr trat. Er sah Jane nach oben langen und den Jungen zu sich heranziehen. Er sah, wie sie die Arme um ihn schlang, sah sie ihren Mund an seinen pressen und ihre Zunge in den Mund des Täters stecken. Angewidert, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, konnte er den Blick nicht von ihr wenden. Wie konnte sie so etwas tun? Wenn sie ihn berührte – mit ihrer Zunge! Ihrer Zunge! –, müsste sie doch wissen, dass er einer der Täter war! Und selbst wenn er nicht an der Verwüstung beteiligt gewesen wäre, dürfte sie ihn nicht so küssen, wie ein Tier.
    Von diesem Augenblick an begann der Rächer Jane Jerome zu hassen. Hasste sie noch mehr als die Täter. Sie war kein anständiger Mensch. Kein anständiger Mensch würde das tun, was sie mit ihrem Mund machte, mit ihrer Zunge. Bei einem der Täter.
    Schließlich gelang es ihm, seinen Blick von diesem grässlichen Geschehen loszureißen. Er ertrug es nicht, sie noch länger anzusehen. Sein Gesicht war vor Qual verzerrt, und ihm war, als wollte es in diesem Ausdruck für immer erstarren, von einem Sturm von Gefühlen erfasst, die er nicht zu unterdrücken oder zu dämpfen vermochte. Blitzartige Bilder stiegen vor seinen Augen auf. Das explodierende Gesicht von Vaughn Masterson, als die Kugel ihn traf. Der Körper seines Großvaters, der sich im Fallen in der Luft drehte.
    Er rannte. Über die Straße, zwischen den Autos hindurch. Wusste, dass die Autos ihn nicht überfahren würden, denn er hatte eine Mission zu erfüllen. Als er auf der gegenüberliegenden Straßenseite angelangt war, rannte er weiter, den Kopf voller Visionen. Visionen von dem, was er mit ihr tun würde. Er malte sich aus, wie sie auf einem Stuhl saß, ganz zusammengeschnürt – ihre Arme und Beine –, aber die Brust frei. Ihre Brust wollte er nicht festbinden, auch wenn er selbst nicht so recht wusste, was der Grund dafür war. Wenn er sie festgebunden hatte, würde er sie nicht berühren. Er würde mit ihr spielen wie mit einem Spielzeug. Er würde sie mit etwas anderem berühren, zum Beispiel mit einem Messer. Das Messer würde die Berührung für ihn ausführen, so wie in der alten Fernsehwerbung: Lassen Sie Ihre Finger das Gehen übernehmen. Nur würde das Messer das Gehen übernehmen, auf ihrem ganzen Körper und ihrer Brust. Sie würde Angst haben. Er würde es in ihren Augen sehen, wie sie Angst hatte. Sie hatte es verdient, Angst zu haben. Nach dem, was sie mit dem Täter gemacht hatte. Sie würde vor dem Messer Angst haben und vor dem Rächer.
    Nachdem er ihr Angst gemacht hatte, würde er das mit ihr tun, was er mit Vaughn Masterson und seinem Großvater getan hatte. Als Erstes musste er natürlich seine Pläne schmieden. Vorsichtig und geschickt. Musste sie in die Falle locken. Im richtigen Augenblick zuschlagen.
    Ich bin der Rächer, rief er lautlos, ein Triumphschrei, der ihn durchbrauste, während er die Straße entlangstolperte.
    Elf Jahre alt, aber klüger und weiser als je zuvor.
    Jane war gerade in den Arbor Drive eingebogen, als sie auf Amos Dalton aufmerksam wurde, der ihr von der anderen Straßenseite aus zuwinkte.
    Zerstreut winkte sie zurück, ganz erpicht darauf, nach Hause zu kommen und ihren Eltern von Karens Fortschritten zu berichten. In der Woche, seit Karen aus dem Koma erwacht war, hatte sie mühsam um Sprache gerungen, es aber nicht geschafft, verständliche Worte hervorzubringen. Heute Nachmittag war es ihr plötzlich gelungen, »Hallo, Jane« zu sagen. Nicht gerade klar und deutlich, und es hatte sie solche Mühe gekostet, dass ihr Gesicht in Schweiß gebadet war. Aber immerhin doch so deutlich, dass sie zu verstehen gewesen war. Hallo, Jane . Wunderbar. Auch Buddy würde beeindruckt sein. Er hatte Karen immer noch nicht kennengelernt. Der Arzt bestand darauf, dass nur Familienangehörige sie besuchen durften, solange ihr Zustand noch so wenig stabil war.
    Amos Dalton hatte aufgehört zu winken und rannte jetzt auf sie zu, quer über die

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