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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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oberste Stufe, als sie ihn um die Ecke der Nieuwstraat biegen sah. Sie blieb stehen, einen Fuß bereits eine Stufe tiefer als ihr übriger Körper, während er die Treppe hinaufstieg und dabei immer zwei Stufen zugleich nahm. Sie dachte: »Wenn ich nur wüsste, wie er heißt, wenn ich nur wüsste, wie er heißt …« Auf halber Treppe gingen sie aneinander vorbei. Als sie wieder im Wohnzimmer saß und in sein Fenster schaute, bemerkte sie, dass ihr Nacken ein wenig steif war, und es schien, als hätten sich alle Kopfschmerzen der Welt in ihrem Schädel versammelt.
    Eine Woche später ging Piet wieder zu einer Versammlung des Kirchenrates. Wieder verließ ihr Nachbar um halb neun das Haus. Sie wusste, wenn sie wieder nach draußen ging, riskierte sie erneut eine Migräne. Sie wollte nicht hinaus, ging aber dennoch. Auf der Wip stieg er diesmal auf der Schleusenseite hinab. Auf halber Treppe blieb er stehen und sagte: »Hallo, Ine.«
    Sie wollte sagen: »Ich heiße Ina, eigentlich aber heiße ich Clazien, aber diesen Namen hasse ich, und darum lasse ich mich Ina nennen«, doch Ine klang in ihren Ohren wie Rue de Sandelin, und deshalb sagte sie nichts. Sie blieb stehen. Er sagte: »Bist du auf dem Heimweg?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Wo gehst du hin?«
    »Nur eine kleine Runde.«
    »Hey«, sagte er, »das hatte ich auch vor.«
    Nebeneinander gingen sie die Wip hinauf. Beim Rathaus fragte er sie: »Warum beobachtest du mich nachmittags immer?«
    »Du kochst so besondere Sachen«, antwortete sie.
    Am Hafen ging ihr nur ein Gedanke durch den Kopf: »Was soll ich bloß sagen? Um Himmels willen, sag etwas, rede mit ihm.« Doch sie schwieg, und er schwieg auch. Wortlos gingen sie nebeneinander her. Auf der Hafenmole betrachteten sie lange die roten und grünen Lichter. Sie lauschten dem Wellenschlag, atmeten den Geruch des Flusses. Sie sahen Schiffe von Dirkzwager zu einem Tanker fahren. Sie beobachteten die Fähre und schauten nach den Lampen der Autos, die übergesetzt wurden.
    Eine Woche später gingen sie erneut Seite an Seite am Hafen spazieren. Wieder standen sie auf der Mole und betrachteten den Fluss. Wochenlang wiederholte sich dieses Ritual. Nach zwei Monaten überquerten sie die Kippenbrug, bogen über die Govert van Wijnkade links ab und gingen zum Schanshoofd. Dann kam, einige Wochen später, der denkwürdige Sommerabend, an dem sie, beide bebend, zur Maaskant gingen.
    Am Beginn des Sommers zog sie bei ihm ein. Zu Piet sagte sie: »Ich ziehe aus und wohne fortan über dem Deich«, und er fragte sie nichts, er sagte auch nichts. Er ließ sie ungehindert gehen. Später am Abend konnte sie Piet in ihrem ehemaligen Wohnzimmer sitzen sehen. Wie in all den Jahren ihrer Ehe döste er vor sich hin und gähnte, und an dem grün leuchtenden Auge konnte sie erkennen, dass das Radio eingeschaltet war. Sie wusste, dass dort unten »Der bunte Dienstagabendzug« durchs Wohnzimmer donnerte, und es kam ihr so vor, als habe sie ihn schon allein deswegen verlassen, weil er sich wie ihre Eltern jedes Mal diese Sendung anhören wollte. Unter anderem dank dieses Zuges, der sie von ihren Hausaufgaben abgehalten hatte, konnte sie sich sicher sein, dass sie nie wieder zurückkehren wollte und entsprechend furchtlos die Konfrontation mit Piets Eltern und später mit ihrer Mutter durchstehen.
    »Ich will die Scheidung«, sagte sie zu den Nadeln.
    »Piet will sich nicht scheiden lassen«, erwiderten die Nadeln. »Piet will, dass du zurückkommst. Er vergibt dir. Ich vergebe dir nicht, niemals. Ich habe immer schon gewusst, dass du dich für was Besseres hältst, zu gut für uns und für Piet. Du bist eingebildet, und diese Einbildung hast du von der Mutter deines Vaters, die meinte auch immer, sie sei etwas Besseres.«
    Ihre Mutter hob ein paar Nadeln auf, steckte sie wieder zwischen die Lippen und ließ die Nähmaschine bedrohlich rattern. Sie sagte: »Du bist ein undankbares Kind.«
    Weil sie Piet jeden Abend gähnen sehen konnte, kümmerte es sie nicht, dass sie in der Stadt plötzlich nur noch »das durchgebrannte Schnuckelchen von Hummelman« genannt wurde. Ihr zuständiger Pastor, der sie noch nie besucht hatte, klingelte an ihrer Tür. Sie sagte: »Ich will die Scheidung.«
    Alles, was der Pastor über den »heiligen Stand der Ehe« und die christliche Vergebungsbereitschaft des Diakons Piet sagte, glitt an ihr ab. Er brachte schwereres Geschütz in Stellung, benutzte das Wort Ehebruch, ermahnte sie, wollte mit ihr beten (was

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