Untitled
Sie sind wie zu einem Gruppenfoto arrangiert, und Oliver ist die Kamera; es fehlt nur noch, daß sie jetzt »cheese« sagen, denn sie alle haben, nachdem sie offenbar gerade erst vom Konferenztisch aufgestanden sind, ein breites Lächeln aufgesetzt. Das strahlendste und energischste Lächeln zeigt freilich wie immer Tiger. Es verleiht der ganzen seltsamen Versammlung einen Schimmer von frommer Entschlossenheit. Oliver liebt dieses Lächeln. Es ist die Sonne, von der er die Kraft zum Wachsen nimmt. Als Kind hat er immer geglaubt, daß er, wenn es ihm einmal gelänge, sich an den Strahlen vorbeizuwinden und hinter diese so begeisterten Augen zu spähen, in das verzauberte Königreich gelangen werde, dessen huldvoller und absoluter Herrscher sein Vater ist. Das sind die Orlow-Brüder! ruft er in Gedanken aus, und Erregung und Vorfreude überfluten ihn. Sie sind es leibhaftig! Randy Massingham hat sie endlich zu fassen gekriegt! Seit Tagen hat Tiger Oliver immer wieder gesagt: Halte dich bereit, warte auf Anweisungen, nimm keine Termine an, hab immer einen anständigen Anzug an. Aber erst jetzt hat er den Grund dafür erkannt.
Tiger steht als Mannschaftsführer in der Mitte. In seinem neuesten blauen Nadelstreifen-Zweireiher von Hayward in der Absätzen von Lobb in St. James´ und frisch frisiert von Trumper´s gleich nebenan, ist er der perfekte Gentleman aus dem West End, allerdings in Miniaturausgabe, ein exquisites Juwel, das funkelnd im Schaufenster liegt und den Blick jedes Passanten auf sich zieht. Wie immer nach oben strebend, hat Tiger einen Arm um die Schultern eines bullig gebauten, militärisch aussehenden Mannes von gut sechzig Jahren gelegt; dichte kindliche Wimpern, kurzgeschorenes braunes Haar und Bimsstein-Teint. Und obwohl Oliver ihn noch nie im Leben gesehen hat, erkennt er in ihm sofort den legendären Jewgenij Orlow, Moskaus patriarchalischen Schieber, Drahtzieher, reisenden Generalbevollmächtigten und Mundschenk am Zentralhof der Macht.
Auf Tigers anderer Seite steht, jedoch frei von seiner Umarmung, ein Mann mit Schnauzbart, Säbelbeinen und finsterem Blick; er trägt einen bibelschwarzen Anzug, der ihm nirgendwo paßt, und spitze orangefarbene Schuhe mit Lüftungslöchern. Mit seinem wilden grimmigen Blick, dem krummen Rücken und den schlapp nach vorn herabhängenden Händen gleicht er einem ausgemergelten Kosaken, der über den Zügeln seines Gauls zusammengesunken ist. Und auch ihn erkennt Oliver sogleich: dieses merkwürdige Wesen ist Jewgenijs jüngerer Bruder Michail, den Massingham verschiedentlich als Jewgenijs Hüter, Killer und dümmeren Bruder Mycroft bezeichnet hat.
Und hinter diesem Trio posiert mit Besitzerstolz und einer Haltung, als habe er zwischen ihnen den heiligen Bund der Ehe geschlossen, und das hat er ja auch tatsächlich, Tigers unermüdlicher Sowjetblock-Berater und Stabschef, der Ehrenwerte Ranulf alias Randy Massingham, vormals beim Außenministerium tätig, Ex-Gardist, Ex-Lobbyist und PublicRelations-Genie, perfekt in Russisch und Arabisch, ehemaliger Berater der Regierungen von Kuwait und Bahrain, dessen Hauptaufgabe in seiner jüngsten Inkarnation bei Single darin besteht, gegen Vermittlungsgebühr neue Kunden an Land zu ziehen. Wie ein einziger Mann mit vierzig Jahren schon so viele Karrieren hinter sich haben kann, ist ein Rätsel, das Oliver noch nicht gelöst hat. Dennoch beneidet er Massingham um seine freibeuterische Vergangenheit, und heute beneidet er ihn zusätzlich um seinen Erfolg, denn Tiger ist seit Monaten wie ein Besessener hinter den Orlow-Brüdern hergewesen. Bei internen Strategiekonferenzen und Projektbesprechungen hat Tiger Massingham abwechselnd mit höhnischen, anspornenden und schmeichelnden Reden bearbeitet: »Herr im Himmel, wo sind meine Orlows, Randy? Warum muß ich mich mit dem zweitbesten zufriedengeben?« eine Anspielung auf andere, kleinere russische Helfer, die sich als unzuverlässig erwiesen haben und ohne viel Federlesens fallengelassen wurden »Wenn die Orlows die einzig Wahren sind, warum sitzen sie dann nicht hier bei mir am Tisch und reden mit mir?« - und dann der Peitschenhieb, denn wenn Tiger sich benachteiligt fühlt, müssen alle sein Unbehagen teilen - »Sie sehen alt aus, Randy. Nehmen Sie sich einen Tag frei. Kommen Sie am Montag wieder, wenn Sie sich jünger fühlen.«
Heute jedoch, bemerkt Oliver mit einem Blick, ist es soweit: Die Orlows haben sich mit Tiger an einen Tisch gesetzt. Massingham muß sich nicht mehr
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