Vaclav und Lena
könnte.
Der Mann wendet sich zum Publikum und gibt bekannt, dass er das Publikum zu dem unerhörten Gratisvergnügen einlade, auf die Bühne zu kommen und in die Kiste zu spähen. Er entriegelt den Deckel und schaut von oben in die Kiste, und Vaclav und Rasia halten den Atem an, weil sie sicher sind, dass Heather Holliday aufgespießt in der Kiste liegt, dass sie tot ist, aber er lächelt nur und winkt dem Publikum zu, auf die Bühne zu kommen.
Vaclav und Rasia stehen langsam von ihren Plätzen auf. Sie sind aufgeregt, aber sie fühlen sich auch schlecht, weil sie auf die Bühne gehen und Geheimnisse erspähen. Vaclav ist nervös, dass er Heather Holliday so nah kommt und sie in der Kiste anschauen kann.
Vaclav betritt die Bühne als Erster, ein Schritt in seinen mit Silberpapier umwickelten Turnschuhen nach dem anderen, und wendet sich Rasia zu, um ihr auf die Plattform zu helfen. Die Bühne ist nur wenige Zentimeter hoch, und für Vaclav ist es ein Leichtes, so als nähme er zwei Treppenstufen auf einmal, aber |140| Rasia, die älter und dicker als andere Mütter ist und durch die Klimaveränderungen in ihrem Leben schlechte Gelenke hat, fällt es schwer, auf die Bühne zu steigen.
Vaclav nimmt entschlossen ihre Hand in seine beiden Hände, und sie setzt einen Fuß auf die Bühne und hält gleichzeitig ihre Handtasche umklammert. Dann hieven sie Rasia mit vereinten Kräften hoch, bis sie auf der Bühne steht, zwei Füße, zwei Knöchel und Schuhe mit Kreppsohlen. Beide spüren den hohlen Raum unter der Sperrholzplatte unter sich, sie spüren, dass diese Bühne weniger stabil ist, als sie es sich gewünscht hätten, und weniger stabil, als sie es angenommen hatten.
Noch halten sie sich an den Händen und gehen auf die Kiste zu.
Der Mann mit den Nägeln in der Nase sagt ihnen, dass sie genau hinschauen sollen.
Sie nähern sich Zentimeter um Zentimeter.
Die Kiste ist sehr klein, und Heather ist darin wie ein Baby zusammengerollt, nur dass sie ihre Arme über dem Kopf statt an den Seiten hat. Die Schwerter sind von allen Seiten um sie herum hineingesteckt. Es gibt ein Schwert, das über ihrer Mitte steckt; der Bauch ist unterhalb der Rippen eingezogen und wird an ihren Hüften wieder runder. Ein anderes Schwert ist zwischen ihre Schenkel gepresst. Ein drittes steckt genau über ihrem Kiefer, sodass sie ihren Kopf nicht drehen kann.
Vaclav und Rasia können sich weder auf die Schwerter konzentrieren noch auf die unglaubliche Art und Weise, mit der Heather Holliday sich um jene gewunden hat. Krampfhaft bemühen sie sich, so zu tun, als würde es ihnen überhaupt nichts ausmachen, ein Lebewesen in einem goldenen Bikini zu betrachten, |141| das in eine Kiste gestopft ist. Heather Holliday kann den Kopf nicht drehen, aber sie schaut sie aus dem Augenwinkel an und hat noch immer ihr augenzwinkerndes Lächeln.
Vaclav kann nicht umhin, ständig Heather Hollidays linke Achselhöhle anzustarren, die nackt ist. Den Stern aus winzigen schwarzen Stoppeln und die weißen Linien von getrocknetem Schweiß in den Falten ihrer Haut. Vaclav hat das Gefühl, das sei das Intimste, das er bislang am Körper eines anderen Menschen gesehen hat. Nicht einmal Heather Holliday kann diese Stelle an ihrem Körper ansehen.
Sie starren sekundenlang in die Kiste, während der Mann mit den Nägeln in der Nase sie anschaut und während Heather Holliday herumschaut und hoch zur Decke wie jemand, der im Zahnarztstuhl sitzt, während sich die Hand des Zahnarztes in seinem Mund befindet. Vaclav versucht, eine gute Stelle zu finden, wohin er schauen kann, aber bei dem goldenen Bikini und der Haut und den Netzstrümpfen und der Achselhöhle weiß er nicht, wohin mit seinen Augen.
»Ganz reizend«, sagt Rasia mit ihrer schweren heiseren Stimme und überrascht damit alle.
|142| Jeder ist mit seiner Angst allein
Nach der Show verlassen Vaclav und Rasia das Theater und werden draußen vom Sonnenlicht, den Gerüchen und dem Ansturm der Menschen überwältigt. Sie laufen zur U-Bahn und halten sich die ganze Zeit an den Händen, aber sie sagen kein Wort.
Als sie zu Hause sind, sagt Rasia zu Vaclav, er solle sich umziehen, und dann geht sie in die Küche, gießt Saft in zwei kleine Gläser, stellt sie auf den Küchentisch und setzt sich. Sie hört die Geräusche, wie Vaclav Alltagskleidung anzieht, sie hört, wie Schubladen geöffnet und geschlossen werden.
Als Vaclav sich mit einem ängstlichen und sorgenvollen Blick ihr gegenüber an den
Weitere Kostenlose Bücher