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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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gelang ihm nicht ...
    »Sie haben doch gestern Poljetschka Ihre Adresse gegeben?«
    »Polja? Ach ja ... Poljetschka! Das ist ... die Kleine ... ist das Ihre Schwester? So, habe ich ihr die Adresse gegeben?«
    »Haben Sie es denn schon vergessen?«
    »Nein ... ich erinnere mich noch ...«
    »Mir hat von Ihnen auch schon der Verstorbene erzählt ... Damals kannte ich aber noch Ihren Familiennamen nicht, und auch er selbst kannte ihn nicht ... Jetzt kam ich aber ... Und da ich gestern Ihren Namen erfuhr ... so fragte ich heute: Wohnt hier Herr Raskolnikow? Ich wußte gar nicht, daß auch Sie in Aftermiete wohnen ... Leben Sie wohl ... Ich muß zu Katerina Iwanowna ...«
    Sie war furchtbar froh, daß sie endlich weggehen konnte; sie ging mit gesenktem Kopfe, eilig, um nur so schnell als möglich den beiden jungen Leuten aus den Augen zu kommen, um nur diese zwanzig Schritte bis zur Straßenbiegung nach rechts zurückzulegen und endlich allein zu bleiben, dann schnell, ohne jemand anzublicken und ohne etwas zu bemerken, nachzudenken, sich zu erinnern, sich auf jedes gesprochene Wort und auf jeden Nebenumstand zu besinnen. Noch niemals, niemals hatte sie Ahnliches empfunden. Eine ganze neue Welt hatte sich unbekannt und dunkel in ihre Seele gesenkt. Sie erinnerte sich plötzlich, daß Raskolnikow selbst zu ihr heute kommen wollte, daß er vielleicht noch am Vormittag, vielleicht gleich kommen würde!
    »Bitte aber nicht heute, bitte, nicht heute!« murmelte sie mit bebendem Herzen, als flehe sie jemand wie ein erschrockenes Kind an. »Mein Gott! Zu mir ... in dieses Zimmer ... er wird sehen ... oh, mein Gott!«
    Natürlich konnte sie in diesem Augenblick den ihr unbekannten Herrn nicht bemerken, der sie aufmerksam beobachtete und ihr auf den Fersen folgte. Er hatte sie schon von dem Tore an begleitet. In dem Augenblick, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikow und sie auf dem Trottoir stehengeblieben waren, um noch ein paar Worte zu wechseln, hatte dieser Fremde, als er um sie herumging, zufällig die Worte Ssonjas: »und fragte: wohnt hier Herr Raskolnikow?« aufgefangen und war plötzlich zusammengefahren. Er musterte schnell, doch aufmerksam, alle drei, besonders Raskolnikow, an den sich Ssonja wandte, sah sich dann das Haus an und merkte es sich. Das alles machte der Fremde in einem Augenblick, im Gehen; er verriet dabei durch keine Miene, daß ihm etwas aufgefallen war, und ging weiter, aber etwas langsamer, als wartete er auf etwas. Er wartete auf Ssonja; er hatte gesehen, daß sie sich verabschiedeten: also mußte Ssonja wohl gleich zu sich nach Hause gehen.
    »Aber wohin denn nach Hause? Ich habe dieses Gesicht schon irgendwo gesehen«, dachte er sich und versuchte, sich Ssonjas Gesicht zu vergegenwärtigen ... »Ich müßte es erfahren.«
    Bei der Straßenbiegung ging er auf die andere Seite hinüber, wandte sich um und sah, daß Ssonja ihm auf dem gleichen Wege folgte, ohne etwas zu beachten. An der Biegung schwenkte sie in die gleiche Straße ab. Er ging ihr nach, sie unablässig mit den Augen verfolgend; nach etwa fünfzig Schritten ging er wieder auf die gleiche Straßenseite, auf der Ssonja ging, herüber und folgte ihr in einer Entfernung von etwa fünf Schritten.
    Er war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, mehr als mittelgroß, wohlbeleibt, mit breiten, steil abfallenden Schultern, was ihm ein etwas gebücktes Aussehen verlieh. Seine Kleidung war elegant und bequem, und er sah wie ein solider vornehmer Herr aus. In den Händen trug er einen hübschen Stock, den er bei jedem Schritt aufs Trottoir stieß, und die Hände staken in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit den derben Backenknochen war recht angenehm, und seine Gesichtsfarbe frisch, gar nicht petersburgisch. Seine Haare waren noch sehr dicht, hellblond und kaum graumeliert, und der breite, üppige Vollbart war noch heller als das Kopfhaar. Seine blauen Augen blickten kalt, durchdringend und nachdenklich; die Lippen waren hellrot. Überhaupt war er ein wunderbar konservierter Mann und sah viel jünger aus, als er war.
    Als Ssonja zum Kanal kam, waren sie beide allein auf dem Trottoir. Da er sie beobachtete, hatte er schon ihre Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Vor ihrem Hause angelangt, schwenkte Ssonja ins Tor ab, und er folgte ihr, anscheinend etwas überrascht. Vom Hofe bog sie rechts in die Ecke ab, wo die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufführte. »Ach!« murmelte der fremde Herr und stieg hinter ihr die Stufen hinauf. Jetzt erst

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