Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
hast du aber, wenn du mich gar nicht kennst, über mich mit Nikodim Fomitsch gesprochen? Folglich wollen sie es nicht einmal verheimlichen, daß sie wie eine Koppel Hunde mir nachspüren! So offen spucken sie mir ins Gesicht! – Er zitterte vor Wut. – Nun, schlagt doch offen zu und spielt nicht mit mir wie die Katze mit der Maus. Es ist ja unhöflich, Porfirij Petrowitsch, das werde ich mir vielleicht gar nicht gefallen lassen! ... Ich werde gleich aufstehen und allen die ganze Wahrheit ins Gesicht schleudern; und ihr werdet sehen, wie ich euch verachte! ... – Er atmete schwer. – Wenn es mir aber nur so vorkommt? Wenn es nur eine Fata morgana ist, wenn ich mich in allem irre, aus Unerfahrenheit wüte und aus meiner gemeinen Rolle falle? Vielleicht ist das alles ohne Absicht? Alle ihre Worte sind gewöhnlich, aber es steckt etwas in ihnen ... Dies alles kann man stets sagen, aber es ist etwas dabei. Warum sagt er direkt: ›bei ihr ?‹ Warum fügte Sossimow hinzu, daß ich ›schlau‹ gesprochen habe? Warum sprechen sie in solch einem Tone? Ja ... der Ton ... Auch Rasumichin saß doch dabei; warum fällt ihm nichts auf? Diesem unschuldigen Tölpel fällt wohl nie was auf! Ich habe wieder Fieber! Hat mir Porfirij vorhin zugezwinkert oder nicht? Wahrscheinlich nicht; warum sollte er es auch? Wollen sie vielleicht meine Nerven reizen oder mich bloß necken? Entweder ist alles Einbildung, oder sie wissen alles! Sogar Samjotow ist frech! ... Ist Samjotow wirklich frech? Samjotow hat es sich in der Nacht überlegt. Ich habe es doch gewußt, daß er es sich überlegen wird! Er benimmt sich hier wie zu Hause, ist aber zum erstenmal da. Porfirij behandelt ihn gar nicht als Gast, er sitzt mit dem Rücken zu ihm. Sie haben sich schon verständigt! Ganz gewiß haben sie sich meinetwegen verständigt. Sicher haben sie vor unserem Erscheinen über mich geredet! ... Ob sie das von der Wohnung wissen? Wenn das doch schneller herauskäme! ... Als ich sagte, ich sei gestern fortgelaufen, um mir eine Wohnung zu mieten, überhörte er es, nutzte die Gelegenheit nicht aus ... Das mit der Wohnung war aber geschickt von mir, es kann mir später einmal zustatten kommen. Ich bin natürlich im Fieber dort gewesen! ... Ha-ha-ha! Auch über den gestrigen Abend ist er schon unterrichtet! Doch von der Ankunft der Mutter wußte er nichts! ... Die Hexe hat auch das Datum mit Bleistift hingeschrieben! ... Ihr irrt, ich ergebe mich nicht! Das sind ja noch keine Tatsachen, es ist nur eine Fata Morgana! Nein, gebt mal Tatsachen her! Auch das mit der Wohnung ist keine Tatsache, sondern eine Fieberphantasie; ich weiß, was ich ihnen zu sagen habe ... Ob sie das von der Wohnung wissen? Ich gehe nicht von hier, ehe ich das erfahren habe! Warum bin ich überhaupt hergekommen? Jetzt bin ich so wütend, und das ist schon vielleicht eine Tatsache! Pfui, wie reizbar ich bin! Vielleicht ist es aber auch gut: ich spiele ja die Rolle eines Kranken ... Er betastet mich. Er wird mich aus dem Konzept bringen wollen. Wozu bin ich hergekommen? –
Das alles durchzuckte ihn wie ein Blitz.
Porfirij Petrowitsch kam im Nu zurück. Er war auf einmal lustig geworden.
»Von deinem gestrigen Abend tut mir der Kopf weh, Bruder ... Ich bin überhaupt ganz aus dem Leim gegangen«, wandte er sich lachend und in einem ganz anderen Tone an Rasumichin.
»Nun, war es interessant? Ich habe euch gestern im interessantesten Moment verlassen! Wer hat gesiegt?«
»Natürlich niemand. Man landete bei den ›ewigen Fragen‹ und schwebte in den Wolken.«
»Denk dir nur, Rodja, bei welcher Frage sie gestern gelandet sind: gibt es ein Verbrechen oder nicht? Ich sagte dir ja schon, daß sie bis zur Bewußtlosigkeit schwatzten!«
»Was ist denn Merkwürdiges dabei? Eine gewöhnliche soziale Frage«, antwortete Raskolnikow zerstreut.
»Die Frage war nicht so formuliert«, bemerkte Porfirij.
»Nicht ganz so, das stimmt«, gab Rasumichin sofort zu. Er sprach hastig und sich ereifernd wie immer. »Siehst du, Rodion: hör zu und sag deine Meinung. Ich will es so. Ich fuhr gestern schier aus der Haut, als ich mit ihnen redete, und wartete immer auf dich; ich hatte ihnen gesagt, daß du kommen wirst. Es fing an mit der Anschauung der Sozialisten. Diese Anschauung ist ja bekannt: das Verbrechen ist ein Protest gegen die anormale soziale Einrichtung – und sonst nichts, sonst gar nichts, andere Gründe gelten nichts, und fertig! ...«
»Da lügst du schon wieder!« rief Porfirij
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