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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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Petrowitsch. Er wurde sichtbar lebhafter und lachte jeden Augenblick beim Anblick Rasumichins, wodurch er ihn noch mehr aufstachelte.
    »Andere Gründe gelten nichts!« unterbrach ihn Rasumichin hitzig. »Ich lüge gar nicht! ... Ich will dir ihre Bücher zeigen: alles geschieht bei ihnen darum, weil ›das Milieu einen hereingezogen hat‹ – und weiter nichts! Das ist ihre Lieblingsphrase! Daraus folgt direkt, daß, wenn man die Gesellschaft normal einrichtet, alle Verbrechen sofort aufhören, weil es dann nichts mehr geben wird, wogegen zu protestieren, und alle werden im Nu Gerechte sein. Die Natur ziehen sie nicht in Betracht, die Natur ist gestrichen, die Natur zählt nicht mit. Bei ihnen wird sich nicht die Menschheit, nachdem sie sich auf ihrem historischen, lebendigen Wege zu Ende entwickelt hat, schließlich in eine normale Gesellschaft verwandeln, sondern umgekehrt, ein irgendeinem mathematischen Kopfe entsprungenes soziales System wird sofort, die ganze Menschheit in Ordnung bringen und sie in einem Nu, ohne jeden lebendigen Prozeß, ohne jeden historischen und lebendigen Weg zu einer gerechten und sündlosen machen! Darum haben sie diesen instinktiven Haß gegen die Geschichte! Sie sagen: ›Sie handeln doch nur von Unfug und Dummheit‹ – und alles wird bloß durch Dummheit erklärt. Darum lieben sie auch nicht den lebendigen Lebensprozeß: sie brauchen keine lebendige Seele ! Die lebendige Seele kann nach Leben verlangen, die lebendige Seele wird der Mechanik nicht folgen wollen, die lebendige Seele ist verdächtig, die lebendige Seele ist rückschrittlich! Sie können aber eine Seele aus Kautschuk machen; sie wird zwar einen Leichengeruch haben, dafür ist sie nicht lebendig, dafür ist sie ohne Willen, dafür ist sie sklavisch und wird sich nicht empören. Und das Resultat ist, daß alles auf die Zusammensetzung der Ziegelsteine und auf die Anlage der Korridore und Räume in der Phalanstere hinausläuft! Die Phalanstere mag wohl fertig sein, aber eure Natur ist für die Phalanstere noch nicht fertig, sie lechzt nach Leben, sie hat ihren Lebensprozeß noch nicht abgeschlossen, es ist zu früh für sie, auf den Friedhof zu kommen. Mit der Logik allein kann man nicht über die Natur springen! Die Logik kann mit drei Fällen rechnen, ihrer sind aber eine Million! Man streicht eine ganze Million und beschränkt sich auf eine einzige Sache – den Komfort! Das ist doch die leichteste Lösung der Aufgabe! Es ist so verführerisch klar, und man braucht gar nicht zu denken! Das ist auch die Hauptsache, daß man nicht zu denken braucht! Das ganze Geheimnis des Lebens findet auf zwei Druckbogen Platz!«
    »Wie der in Schwung gekommen ist, er trommelt nur so! Man müßte ihn an den Händen festhalten!« bemerkte lachend Porfirij. »Denken Sie sich nur,« wandte er sich an Raskolnikow, »so ging es auch gestern abend zu, sechsstimmig, und vorher hat er noch alle mit Punsch betrunken gemacht! Können Sie sich das vorstellen? Nein, Bruder, du redest Unsinn: das ›Milieu‹ hat im Verbrechen viel zu sagen, das will ich dir beweisen.«
    »Ich weiß auch selbst, daß es viel zu sagen hat, aber beantworte mir diese Frage: ein Vierzigjähriger schändet ein zehnjähriges Mädchen; hat ihn das Milieu dazu gezwungen?«
    »Nun, im strengen Sinne vielleicht auch wirklich das Milieu!« antwortete Porfirij mit merkwürdigem Ernst. »Das am Mädchen verübte Verbrechen kann man sogar sehr gut mit dem ›Milieu‹ erklären.«
    Rasumichin wurde fast rasend.
    »Nun will ich dir gleich beweisen ,« brüllte er, »daß du nur deshalb weiße Wimpern hast, weil der Glockenturm ›Iwan der Große‹ zu Moskau fünfunddreißig Klafter hoch ist; und ich beweise es dir klar, genau, fortschrittlich und sogar mit einem Stich ins Liberale! Ich übernehme es! Willst du wetten?«
    »Ich nehme die Wette an! Wollen wir mal hören, wie er das beweisen wird!«
    »Er verstellt sich ja bloß, zum Teufel!« rief Rasumichin. Er sprang auf und winkte abwehrend mit der Hand. »Lohnt es sich denn überhaupt davon zu sprechen? Er meint es ja gar nicht ernst, du kennst ihn noch nicht, Rodion! Auch gestern nahm er für die andern Partei, nur um sie zum Narren zu halten. Und was er gestern zusammengeredet hat – mein Gott! Und die freuten sich noch über ihn! ... Er kann zuweilen zwei Wochen lang so eine Rolle spielen. Im vorigen Jahre redete er uns aus irgendeinem Grunde ein, daß' er ins Kloster gehen wolle: zwei Monate hielt er daran fest! Neulich

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