Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
sofort zu banalisieren und alles, was sie in der aufrichtigsten Weise zu fördern glauben, in eine Karikatur zu verwandeln.
Übrigens konnte Lebesjatnikow trotz seiner eigentlich gutmütigen Natur seinen Zimmergenossen und einstigen Vormund Pjotr Petrowitsch wenig leiden. Dieses Verhältnis stellte sich von ungefähr ein und beruhte auf Gegenseitigkeit. Wie einfältig Andrej Ssemjonowitsch auch war, begann er allmählich einzusehen, daß Pjotr Petrowitsch ihn an der Nase herumführte und im geheimen verachtete, daß er »nicht der richtige Mensch« sei. Er versuchte, ihm das System Fouriers und die Theorie Darwins zu entwickeln, aber Pjotr Petrowitsch hörte ihm, besonders in der letzten Zeit, allzu sarkastisch zu, in der allerletzten Zeit schimpfte er sogar auf ihn. Er war nämlich instinktiv dahinter gekommen, daß Lebesjatnikow nicht bloß ein hohler und dummer Mensch, sondern auch ein Lügner war, daß er keinerlei irgendwie bedeutende Verbindungen, selbst in seinem eigenen Kreise, hatte und lauter Gerüchte aus dritter Hand wiedergab; daß er auch seine eigene Sache, die Propaganda vielleicht gar nicht verstand, da er schon gar zu verworren redete, also wohl kaum ein »Entlarvter« sein konnte! Wir wollen nebenbei noch bemerken, daß Pjotr Petrowitsch in diesen anderthalb Wochen (besonders im Anfange) die seltsamsten lobenden Außerungen von Andrej Ssemjonowitsch hinnahm, das heißt, daß er ihm nicht widersprach und schwieg, wenn Andrej Ssemjonowitsch ihm die Absicht zuschrieb, bei der Gründung einer neuen »Kommune« irgendwo in der Mjestschanskaja-Straße behilflich zu sein; oder zum Beispiel Dunjetschka nicht zu stören, wenn es ihr einfiele, gleich im ersten Monat nach der Hochzeit sich einen Geliebten anzuschaffen; oder seine künftigen Kinder nicht taufen zu lassen und dergleichen mehr. Pjotr Petrowitsch hatte, seiner Gewohnheit gemäß, gegen diese ihm zugeschriebenen Eigenschaften nichts einzuwenden, und nahm sogar alle die Lobsprüche hin – so angenehm war ihm jedes Lob.
Pjotr Petrowitsch, der an diesem Morgen zu irgendeinem Zweck einige fünfprozentige Staatspapiere eingewechselt hatte, saß am Tisch und zählte die Banknoten und Schatzscheine nach. Andrej Ssemjonowitsch, der fast nie Geld hatte, ging im Zimmer auf und ab und tat so, als sähe er dieses Geld gleichgültig und sogar mit Verachtung an. Pjotr Petrowitsch konnte zum Beispiel um nichts in der Welt glauben, daß Andrej Ssemjonowitsch tatsächlich imstande sei, so viel Geld gleichgültig anzusehen; Andrej Ssemjonowitsch seinerseits dachte voll Bitterkeit, daß Pjotr Petrowitsch vielleicht wirklich imstande sei, so von ihm zu denken und sich vielleicht sogar über die Gelegenheit freue, seinen jungen Freund mit den aufgestapelten Banknotenpäckchen zu necken und zu reizen, indem er ihn an seine eigene Nichtigkeit und die Distanz zwischen ihnen erinnerte.
Er fand ihn diesmal ungewöhnlich gereizt und unaufmerksam, obwohl Andrej Ssemjonowitsch soeben versucht hatte, ihm sein Lieblingsthema von der Errichtung einer ganz neuen, besonderen »Kommune« zu erklären. Und die kurzen Einwendungen und Bemerkungen, die Pjotr Petrowitsch unter dem Klappern der Beinkugeln des Rechenbretts entschlüpften, atmeten eine ganz offene und absichtlich unhöfliche Verhöhnung. Aber der »humane« Andrej Ssemjonowitsch schrieb diese Stimmung Pjotr Petrowitschs dem Eindrucke des gestrigen Bruches mit Dunjetschka zu und brannte vor Ungeduld, schneller auf dieses Thema zu kommen: darüber hätte er manches Progressive und Propagandistische zu sagen, was seinen verehrten Freund trösten und »zweifellos« von Nutzen für seine weitere Entwicklung sein könnte.
»Was für ein Totenmahl veranstaltet jene ... Witwe?« fragte plötzlich Pjotr Petrowitsch, Andrej Ssemjonowitsch an der interessantesten Stelle unterbrechend.
»Als ob Sie es nicht wüßten! Ich habe ja mit Ihnen gestern darüber gesprochen und meine Gedanken über alle diese Gebräuche entwickelt ... Sie hat auch Sie eingeladen; ich habe es gehört. Sie haben mit ihr gestern selbst gesprochen ...«
»Ich hätte niemals erwartet, daß diese bettelarme Närrin das ganze Geld, das sie vom anderen Narren ... Raskolnikow bekommen hat, für das Totenmahl verschwenden wird. Ich habe mich sogar eben gewundert, als ich vorüberging: was für Vorbereitungen, was für Weine! ... Mehrere Menschen sind eingeladen, es ist weiß der Teufel was!« fuhr Pjotr Petrowitsch fort. Als er sich erkundigte und das
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