Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
entschloß sich jedoch, ihre Gefühle vorerst nicht zu äußern, obwohl sie sich in ihrem Herzen fest vorgenommen hatte, Amalia Iwanowna heute noch zurechtzuweisen und an den ihr gebührenden Platz zu erinnern, sonst würde sie sich Gott weiß was einbilden; zunächst beschränkte sie sich darauf, sie einfach kühl zu behandeln. Auch eine andere Unannehmlichkeit hatte zur Gereiztheit Katerina Iwanownas beigetragen: zur Beerdigung war von den eingeladenen Mietern, außer dem Polen, der immerhin noch Zeit gefunden hatte, auf den Friedhof zu laufen, fast niemand erschienen; aber zum Totenmahle kamen nur die unbedeutendsten und ärmsten von ihnen; viele waren sogar etwas angetrunken, mit einem Worte ein Gesindel. Aber die Alteren und die Solideren waren alle, als hätten sie sich verabredet, nicht erschienen. So fehlte zum Beispiel auch Pjotr Petrowitsch Luschin, wohl der solideste von allen Mietern, während Katerina Iwanowna schon gestern abend aller Welt, das heißt Amalia Iwanowna, Poljetschka, Ssonja und dem kleinen Polen erzählt hatte, daß er der edelste und großmütigste Mensch mit den besten Verbindungen und einem bedeutenden Vermögen sei, ehemaliger Freund ihres ersten Mannes, der im Hause ihres Vaters gern gesehen worden sei und ihr versprochen habe, alle Mittel anzuwenden, um ihr eine beträchtliche Pension zu erwirken. Wir wollen hier bemerken, daß, wenn Katerina Iwanowna auch mit jemandes Verbindungen und Vermögen prahlte, sie es ohne persönliches Interesse und vollkommen uneigennützig tat, sozusagen aus übervollem Herzen, nur um des Vergnügens willen, den Betreffenden zu loben und dem Gelobten ein größeres Gewicht zu verleihen. Gleich Luschin war auch, vermutlich »seinem Beispiel folgend«, »dieser gemeine Schuft Lebesjatnikow« nicht erschienen. »Was bildet sich wohl dieser ein? Man hat ihn doch bloß aus Gnade eingeladen, und auch das nur, weil er mit Pjotr Petrowitsch in einem Zimmer wohnt und sein Bekannter ist, so daß es nicht gut ging, ihn nicht einzuladen.« Nicht erschienen waren ferner die feine Dame mit ihrer Tochter, »der überreifen alten Jungfer«, die zwar erst seit zwei Wochen bei Amalia Iwanowna wohnten, aber sich schon einige Male über den Lärm und das Geschrei bei den Marmeladows beschwert hatten, besonders wenn der Verstorbene betrunken nach Hause kam; das hatte Katerina Iwanowna von Amalia Iwanowna erfahren, als diese, wenn sie sich mit Katerina Iwanowna zankte und ihr drohte, sie mit ihrer ganzen Familie hinauszuwerfen, aus vollem Halse schrie, daß sie »vornehme Mieter, deren Fuß Sie nicht mal wert sind, belästigen!« – Katerina Iwanowna nahm sich absichtlich vor, diese Dame mit ihrer Tochter, deren »Fuß sie nicht mal wert sei«, einzuladen, um so mehr als jene bei zufälligen Begegnungen sich hochmütig wegwandte; – nun soll sie wissen, daß man hier »edler fühlt und denkt und, ohne Böses nachzutragen, zu Gast bittet«; – nun sollen beide, Mutter und Tochter, sehen, daß Katerina Iwanowna an ganz andere Verhältnisse gewöhnt ist! Sie hatte fest beschlossen, ihnen dies alles bei Tisch zu erklären und auch den Gouverneursrang des verstorbenen Papas zu erwähnen, zugleich aber auch indirekt zu bemerken, daß sie keinen Grund hätten, sich bei den Begegnungen wegzuwenden, und daß dies außerordentlich dumm sei! Es fehlte auch der dicke Oberstleutnant (eigentlich Hauptmann a.D.); es stellte sich aber heraus, daß er seit gestern früh vor Trunkenheit seine Beine nicht bewegen konnte. Mit einem Wort, es erschienen nur: der Pole, ein unansehnlicher Kanzlist, der kein Wort sprach, in fettigem Frack, mit Finnen im Gesicht und einem ekelhaften Geruch; dann ein tauber und fast blinder Greis, der einst bei einem Postamt angestellt gewesen war und dessen Unterhalt bei Amalia Iwanowna seit undenkbaren Zeiten und aus unbekannten Gründen jemand bezahlte. Es kam auch ein betrunkner Leutnant a.D., im Grunde genommen nur ein Proviantbeamter, der höchst unanständig und laut lachte und sogar, »denken Sie sich nur«, keine Weste anhatte! Ein Unbekannter setzte sich direkt an den Tisch, sogar ohne Katerina Iwanowna begrüßt zu haben, und schließlich tauchte auch noch eine Person auf, die aus Ermangelung eines Anzuges mit einem Schlafrocke bekleidet war; dies war aber schon so unanständig, daß dieser Gast durch die Bemühungen Amalia Iwanownas und des Polen abgeschoben wurde. Der Pole hatte übrigens noch zwei andere Polen mitgebracht, die bei Amalia Iwanowna
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