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Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)

Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)

Titel: Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij
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verlassen und nach Raskolnikow zu sehen, doch zu den Damen war er sehr ungern und mit großem Mißtrauen gegangen, da er dem betrunkenen Rasumichin nicht recht traute. Seine Eitelkeit wurde aber sofort beruhigt und sogar angenehm berührt: er sah, daß man ihn hier wirklich wie ein Orakel erwartete. Er blieb genau zehn Minuten sitzen und brachte es fertig, Pulcheria Alexandrowna vollkommen zu überzeugen und zu beruhigen. Er sprach mit ungewöhnlicher Teilnahme, aber zurückhaltend und mit erzwungenem Ernst, wie ein siebenundzwanzigjähriger Arzt bei einer wichtigen Konsultation zu sprechen pflegt, schweifte mit keinem Wort vom Thema ab und zeigte auch nicht den geringsten Wunsch, zu den beiden Damen in ein persönlicheres und intimeres Verhältnis zu treten. Da er schon bei seinem Eintritt bemerkt hatte, wie blendend schön Awdotja Romanowna war, nahm er sich gleich zusammen: er bemühte sich, sie während des ganzen Besuches nicht zu beachten, und wandte sich immer ausschließlich an Pulcheria Alexandrowna. Dies alles gewährte ihm eine außerordentliche innere Befriedigung. Über den Kranken äußerte er sich, daß er seinen Zustand augenblicklich für höchst befriedigend halte. Nach seinen Beobachtungen beruhe die Krankheit des Patienten außer auf den schlechten materiellen Umständen in den letzten Monaten auch auf gewissen moralischen Ursachen: »Sie ist sozusagen das Produkt vieler komplizierter moralischer und materieller Einflüsse, Sorgen, Befürchtungen, gewisser Ideen ... und dergleichen.« Als er flüchtig merkte, daß Awdotja Romanowna ihm besonders aufmerksam zuzuhören begann, fing Sossimow an, sich über dieses Thema noch mehr zu verbreiten. Auf die besorgte und schüchterne Frage Pulcheria Alexandrownas wegen »eines angeblichen Verdachts von geistiger Umnachtung« antwortete er mit einem ruhigen und offenen Lächeln, daß seine Worte etwas übertrieben seien; bei dem Kranken könne man natürlich wohl eine fixe Idee, etwas, was auf Monomanie hinwiese, wahrnehmen – da er, Sossimow, zurzeit besonders aufmerksam diesen so interessanten Zweig der ärztlichen Wissenschaft verfolge –, aber man dürfe nicht vergessen, daß der Kranke bis heute im Fieber gelegen und phantasiert habe, und ... und die Ankunft seiner Angehörigen werde ihn natürlich kräftigen und zerstreuen und auf ihn heilbringend wirken – »wenn es nur gelingt, neue heftige Erschütterungen zu vermeiden«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann erhob er sich, verabschiedete sich gesetzt, doch freundlich, begleitet von Segnungen, heißer Dankbarkeit und Bitten und selbst von dem sich ihm unaufgefordert entgegenstreckenden Händchen Awdotja Romanownas, und ging, außerordentlich zufrieden mit seinem Besuche und noch mehr mit sich selbst.
    »Reden wollen wir morgen; jetzt müssen Sie sich unbedingt hinlegen!« sagte Rasumichin sehr bestimmt, als er zugleich mit Sossimow wegging. »Morgen bin ich, so früh es geht, wieder mit einem Bericht bei Ihnen.«
    »Was ist diese Awdotja Romanowna für ein reizendes Mädel!« bemerkte Sossimow, dem fast das Wasser im Munde zusammenlief, als sie auf die Straße traten.
    »Reizend? Du sagst reizend?« brüllte Rasumichin; er stürzte sich plötzlich auf Sossimow und packte ihn an der Kehle. »Wenn du dich noch einmal unterstehst ... Verstehst du? Verstehst du?« schrie er, ihn am Kragen schüttelnd und an die Wand drückend. »Hast du es gehört?«
    »Laß los, betrunkener Teufel!« wehrte sich Sossimow. Als jener ihn losgelassen hatte, sah er ihn unverwandt an und schüttelte sich plötzlich vor Lachen. Rasumichin stand vor ihm mit gesenkten Armen, düster, ernst und nachdenklich.
    »Natürlich bin ich ein Esel«, sagte er finster wie eine Gewitterwolke. »Aber ... auch du bist gut!«
    »Nein, Bruder, ich bin nicht so. Ich bilde mir keine Dummheiten ein.«
    Sie gingen schweigend weiter. Erst dicht vor der Wohnung Raskolnikows brach Rasumichin sehr erregt das Schweigen.
    »Hör mal,« sagte er zu Sossimow, »du bist ein braver Bursche, doch, abgesehen von den anderen üblen Eigenschaften, bist du auch noch ein liederlicher Taugenichts und ein schmutziger dazu, das weiß ich. Du bist ein nervöser, schwacher Waschlappen, du bist verdreht und verfettet und kannst dir nichts versagen – das nenne ich aber schon schmutzig, denn es führt in den Schmutz. Du bist so verzärtelt, daß ich, offen gestanden, gar nicht begreifen kann, wie du dabei ein guter und sogar aufopfernder Arzt sein kannst. Er

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