Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
sie schon längst Gelegenheit gehabt. Der Kerl, der ihn im Schlaf überwältigt hatte, musste ein Hüne sein. Der hätte ihm auf der Stelle alle Knochen brechen können. Und mit welcher Leichtigkeit der ihn herumgetragen hatte. Ob seine Entführer ihn in ein Verließ sperren und eine Lösegeldforderung stellen würden? Wenn ja, an wen könnten sie sich wenden? Sein Geld wurde von Dr. Leuttner verwaltet. Aber woher sollten seine Entführer das wissen? Mark zog unter dem Sack, der über seinen Kopf gestülpt war, Grimassen und hoffte, dass sich auf diese Weise der Klebestreifen über seinem Mund ein wenig lösen würde. Dann könnte er wieder etwas besser atmen. Aber es tat nur weh und brachte nichts. Mark stellte fest, dass sein sonst allgegenwärtiger Optimismus verloren gegangen war. In dieser beschissenen Situation, in der er sich gerade befand, gingen ihm nur schreckliche Bilder durch den Kopf. Er sah sich in einem dreckigen Kellerloch verhungern. Die Ratten liefen ihm über das Gesicht. Er stürzte in einen Brunnen, der kein Ende nahm. Die Entführer warfen ihn bei voller Fahrt aus dem Auto. Hilflos auf der Straße liegend, sah er einen Lastwagen näher kommen. Der Lastwagen wurde immer größer …
20
D r. Leuttner lief in seiner Düsseldorfer Kanzlei nervös auf und ab. Mit einer vergleichbaren Situation war er noch nie konfrontiert worden. Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen und einen Entschluss zu fassen. Vor einer Viertelstunde hatte er einen anonymen Anruf erhalten. Mark Hamilton sei in Italien entführt worden, sagte man ihm. Die genaue Lösegeldforderung gehe ihm noch zu. Gleiches gelte für die Modalitäten der Übergabe. Ohne Zahlung des Lösegelds erlebe Mark Hamilton die kommende Woche jedenfalls nicht mehr. Der nächste Anruf erfolge in exakt fünf Stunden. Bevor er etwas sagen konnte, war bereits eingehängt worden.
Den Rechtsanwalt quälten diverse Fragen. Wie zum Beispiel waren die Entführer auf ihn gekommen? Woher sollte er wissen, dass Mark Hamilton wirklich entführt worden war? Im Haus am Gardasee ging zwar niemand ans Telefon, aber das hatte ja nichts zu besagen. Angenommen, es handelte sich um Kidnapping, wie konnte er sich davon überzeugen, dass Mark Hamilton noch lebte? Und inwieweit war er eigentlich befugt, über das Vermögen von Mark Hamilton in einem solchen Fall zu verfügen? Und last, but not least: Sollte er die Polizei verständigen? Der Anrufer, der Deutsch mit einem unüberhörbaren italienischen Akzent gesprochen hatte, hatte auf den in Kriminalfilmen üblichen Hinweis verzichtet, nämlich dass er nicht die Polizei verständigen dürfe. Also, worauf wartete er noch? Er hatte überhaupt keine Erfahrung mit einer Lösegelderpressung. Wahrscheinlich rechneten die Entführer ohnehin damit, dass er die Polizei einbezog.
Dr. Leuttner ging zu seinem Schreibtisch und drückte auf den Sprechknopf seiner Gegensprechanlage.
»Frau Zeul, bitte sagen Sie alle Termine für den restlichen Tag ab …«
»Aber Herr Dr. Leuttner, das geht doch nicht, Sie haben …«
»Interessiert mich nicht. Alles absagen! Und verbinden Sie mich umgehend mit der Kriminalpolizei. Fragen Sie dort nach dem höchstrangigen Dienst habenden Kommissar. Die Sache ist brandeilig. Bitte machen Sie schnell!«
»Die Kriminalpolizei?« Die Stimme der Sekretärin überschlug sich.
»Sie haben richtig gehört, nun machen Sie schon!«
Wenige Stunden später ging es in Dr. Leuttners Arbeitszimmer drunter und drüber. Der Rechtsanwalt hatte sich hinter seinem Schreibtisch verbarrikadiert. Auf der anderen Seite des Raums wurden elektronische Geräte aufgebaut, die mit der Telefonanlage verbunden wurden. Seine Sekretärin versuchte verzweifelt größere Schäden am Inventar abzuwenden. Ein Beamter stand am Fenster und telefonierte per Handy mit einem Kollegen der Kriminalpolizei in Verona. In einem wüsten Kauderwelsch aus Deutsch und Italienisch vereinbarte er eine Konferenzschaltung mit Experten der italienischen »Commissione speciale per i rapimenti«. Vis-à-vis von Dr. Leuttner saß Hauptkommissar Wächter, der so etwas wie der ruhende Pol in diesem Chaos war.
»Herr Dr. Leuttner, wir müssen uns auf den nächsten Anruf vorbereiten.«
Der Rechtsanwalt nickte. »Was schlagen Sie vor, wie ich mich verhalten soll?«
»Am besten ist, Sie vergessen, dass wir involviert sind.«
Mit einem Blick auf die anwesenden Kriminalbeamten meinte Dr. Leuttner: »Das wird mir schwer fallen.«
»Sie
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