Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
nicht.
Donovan auch nicht.
»Wer sind Sie?!«, schreit Wendelin. »Identifizieren Sie sich!«
»Ich bin Manuel!«, schreit der Mann mit bebender Stimme. »Der Koch!«
Sie sind weg, erzählt Manuel Wendelin.
»Wohin?«
Manuel weiß es nicht.
»Wie viele?«
Sagt Manuel nicht.
»War ein gewisser David Collins dabei?«
Manuel versteht die Frage nicht.
Wendelin wird klar, dass Manuel von Donovan gebrieft wurde.
Und Manuel ist loyal.
Ich könnte den Koch von den Kollegen aus Costa Rica verhaften und verhören lassen, denkt Wendelin, aber das käme mir sinnlos und grausam vor.
Jetzt, da Collins und seine fröhlichen Gefährten in die große weite Welt gezogen sind, werden sie die Puppen tanzen lassen.
Aber wo zum Henker steckt Collins?, fragt sich Wendelin.
Und was zum Teufel hat er vor?
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Der Stamm ist am schlimmsten.
Über zwei Meter lang, knapp ein Meter Umfang, mit Wasser vollgesogen und schwer – der Stamm ist die reine Folter. Die Übung besteht darin, die Arme darum zu schlingen und das Ding aus dem Wasser über den Strand bis zum Hügel zu schleppen oder zu ziehen.
Rolf macht das, als wär’s ein überdimensionierter Zahnstocher, aber Rolf ist auch einsachtundneunzig und fast hundertzwanzig Kilo schwer.
Dave nicht.
Willem, Ulrich, Alessandro, Lev, Amir, Michel – alle haben Mühe, kriegen es aber hin.
Dave nicht.
Der Stamm fickt ihn.
Fast wird es persönlich, als würde ihn das Ding richtiggehend hassen. Es vergräbt sich im Sand, rutscht ihm aus den Händen, bohrt Splitter in seine Unterarme, wenn er versucht, sich daran festzuklammern; schürft ihm die Schultern blutig, wenn er’s endlich schafft, es hochzuhieven; zwingt ihn in die Knie, wenn er damit den Hang hinaufstaksen will.
Der Stamm gewinnt.
Dass Michel ihm ununterbrochen in die Ohren brüllt, hilft auch nicht.
»Gib’s auf, bleu !«, schreit Michel. »Wie willst du an einem Einsatz teilnehmen, wenn du nicht mal mit einem Baumstamm klarkommst? Wie willst du einen Verwundeten tragen?! Du kannst es nicht. Er wird sterben! Gib’s auf, bleu !«
Allein durch die ständige Wiederholung hat Dave begriffen, dass bleu der französische Ausdruck für einen blutigen Anfänger ist, einen Neuling, einen FNG.
Er stellt sich hinter den Stamm und versucht, ihn durch den Sand zu schieben.
»Du schaffst es nicht!«, brüllt Michel.
Das Wasser im Mar de Cortés ist von einem Türkisblau, wie es sich kein zweites Mal auf der Welt findet.
Auch bekannt als Golf von Kalifornien, trennt es die Halbinsel Baja California vom mexikanischen Festland. Es gibt siebenunddreißig Inseln im Mar de Cortés, und Donovans neues Camp befindet sich auf einer davon. Im Prinzip ist die Insel eine kleine vulkanische Erhebung, umgeben von einer kargen Küste, felsig auf der Westseite, sandig im Osten.
Im Vergleich zu dem Stützpunkt in Costa Rica ist das auf kahlen Felsen über dem Strand im Osten gelegene Camp primitiv. Eine Reihe schlichter Ein-Mann-Zelte wurde dort aufgeschlagen. Ein ramada mit einem Palmblattdach dient als Küche, über einer Feuerstelle liegt ein Stück Blech als »Herdplatte«. Ein paar einfache Stühle und Tische bilden den Essbereich.
Ein hölzerner Tank auf dem Hügel versorgt das Camp, die beiden Duschen, die Latrine und die Küche mit Wasser. Ein dieselbetriebener Generator liefert Strom. Auf der Westseite befindet sich eine kleine hölzerne Anlegestelle – von Sonne und Wind ausgebleicht.
Die Sonne scheint unerbittlich, der Wind bläst stetig.
Essen gibt es reichlich, aber es ist primitiv – Fisch und Eier morgens, Fisch-Tacos mittags, Fisch und Reis abends.
»Die Swahilis auf Lamu essen Fisch und Reis«, erklärt Donovan, »und ihr müsst riechen wie sie.«
Das Camp soll sie stählen.
Am Abend des ersten Trainingstags klappte Dave auf seiner Pritsche zusammen. Aß nicht, duschte nicht, warf sich einfach mit dem Gesicht voran aufs Bett und war weg.
Eine Stunde und achtunddreißig Minuten später kam Michel herein und schrie, wie schön es sei, nachts ein paar Runden im Meer zu schwimmen. Kaum zurück und erneut in einen traumlosen Schlaf gesunken, wurde Dave von Willem geweckt, der in die Luft ballerte. So ging es Nacht für Nacht. Einmal warf Ulrich eine Blendgranate in Daves Zelt. Ein anderes Mal wurde Dave von einem Zischen geweckt, dann sah er eine ein Meter lange Klapperschlange auf seine Pritsche zuschlängeln. Er stürzte aus dem Zelt und wurde draußen von seinen »Teamkameraden« mit spöttischem Gesang
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