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Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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    » Good morning to you,
    good morning to you
    We’re all in our places
    With bright shiny faces … «
    Es war der Auftakt zu einem zwanzig Kilometer langen »Fun-Lauf«, noch vor dem Frühstück – die Hälfte der Strecke führte durch knietiefes Wasser. Der Letzte musste die Latrinen putzen.
    Dave war der Letzte.
    Jetzt stellt er sich hinter den Stamm und will ihn durch den Sand schieben. »Du schaffst es nicht!«, brüllt Michel. »Und wenn du’s jetzt nicht schaffst, wie willst du’s dann beim Abschlussball hinkriegen?!«
    »Abschlussball« – so nennen die Männer den letzten Teil der ersten Trainingsphase.
    Das Training gliedert sich in zwei Phasen – Ausdauertraining zur körperlichen Vorbereitung und fortgeschrittenes Training, das speziell auf den bevorstehenden Einsatz zugeschnitten ist. Die erste Phase ist physisch und psychisch brutal – belastet Körper und Geist. Die zweite Phase ist körperlich weniger anstrengend und lässt den Männern ein bisschen mehr Raum zur Erholung. Schließlich sollen sie nicht völlig erschöpft und ausgemergelt antreten, wenn es ernst wird. Sie sollen frisch, gesund und ausgeruht sein.
    Die zweite Phase ist eher eine intellektuelle Herausforderung: Sie müssen sich die Operation einprägen, sie einüben und perfektionieren.
    Um dorthin zu gelangen, gilt es aber erst mal, das körperliche Training zu meistern, das seinen Höhepunkt im sogenannten Abschlussball findet.
    Jedes Spezialkräftekommando hat eine eigene Form dafür entwickelt – ein letzter Marathonlauf, eine Ausdauerprüfung, ein Ritual, das zusammenschweißt. Donovan lässt sein Team dreißig Kilometer mit kompletter Ausrüstung über einen Berg laufen, acht Kilometer schwimmen und zum Schluss einen nassen Baumstamm durch den Strand die Dünen raufschleppen.
    Wenn du das überlebst, bist du bereit.
    Du bist ein Bruder.
    Gehörst dazu.
    Du stellst dich unter die heiße Dusche, dann ziehst du die Uniform deiner alten Einheit an, gesellst dich zu deinen Brüdern und erhebst dein Glas auf abwesende Freunde. Danach setzt du dich, isst ein extra eingeflogenes Steak, dinierst bei Kerzenlicht und trinkst noch ein paar weitere Gläser.
    Dann schläfst du, bis du von alleine aufwachst, weil der kommende Tag frei ist.
    Dann erst beginnt die zweite Phase.
    »Gib auf!«, sagt Michel. Er beugt sich zu Dave runter und sagt leise: »Musst dich nicht schämen. Du bist der Sache körperlich nicht gewachsen. Gib auf.«
    Dann macht Michel einen Fehler. Er sagt: »Deine Frau und dein Sohn würden es auch wollen.«
    Dave stemmt sich hoch.
    Er drückt, zieht, schleppt, zerrt und schiebt den »scheiß Stamm« die steile Düne hinauf.
    Aber Michel hat recht – wenn er es so schon kaum hinbekommt, wie soll das nach einem dreißig Kilometer langen Lauf und acht Kilometern Kraul funktionieren?
    Mach dir keine Sorgen, sagt er sich.
    So weit ist es noch nicht, das kommt erst beim Abschlussball.
    In einer Woche.
    »Warum hat er noch nicht aufgegeben?«, fragt Donovan Michel ein paar Tage später. Sie beobachten Dave, der langsam den Hügel hinaufsteigt, die Sonne verschwimmt hinter ihm zu einem roten Glühen.
    »Morgen ist Abschlussball.«
    »Er gibt nicht auf.«
    »Dann zwing ihn.«
    Michel schüttelt den Kopf.
    »Was?«, fragt Donovan.
    »Du hast doch mit ihm gekämpft, oder?«, fragt Michel.
    »Und?«
    »Hat er da jemals aufgegeben?«, fragt Michel.
    Donovan starrt ihn an.
    »Er ist sehr entschlossen«, sagt Michel. »Und kämpferisch.«
    »Dann setz ihn außer Gefecht«, fährt Donovan ihn an.
    Lieber sieht er Dave verwundet als tot.
    »Das ist nicht richtig«, sagt Michel am Abend draußen vor seinem Zelt zu Simon, während sie noch was zusammen trinken.
    »Was?«
    »Was wir mit Collins machen«, sagt Michel.
    Simon zuckt mit den Schultern.
    »Wäre es die Frau von einem von uns gewesen«, sagt Michel, »oder eins unserer Kinder …«
    »War’s aber nicht«, erwidert Simon. Er nimmt einen großen Schluck Scotch und stochert im Feuer – nachts kann es auf einsamen Inseln erstaunlich kalt werden. »Ich wäre gerne Mittelfeldspieler bei Birmingham geworden. Daraus wird auch nichts mehr.«
    »Trotzdem …«
    Michel war am Nachmittag zu Rolf gegangen und hatte ihm erklärt, was er am folgenden Tag von ihm erwartete. Der Rhodesier hatte sich bereit erklärt mitzuspielen, für Michels Geschmack sogar ein bisschen zu diensteifrig. Jetzt schämt er sich für das, was am kommenden Vormittag passieren wird.
    Michel Diallos

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