Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vermiss mein nicht

Vermiss mein nicht

Titel: Vermiss mein nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cecelia Ahern
Vom Netzwerk:
Jack hielt das Schweigen nicht aus. »Das, was um uns rum passiert, sollte anders werden«, antwortete er nach kurzer Überlegung hastig.
    Anscheinend war das für Dr. Burton nicht genug.
    »Und …« Jack zögerte. »Und das versuche ich auch.«
    »Sie versuchen, das zu ändern, was um Sie herum passiert«, wiederholte Dr. Burton.
    »Genau, das hab ich doch grade gesagt.«
    »Und das gefällt Gloria nicht.«
    Jack überlegte, ob Dr. Burton wohl viel Geld verdiente. »Nein«, antwortete er kopfschüttelnd. »Sie findet, ich sollte endlich alles vergessen.« Eigentlich hatte er das gar nicht sagen wollen, aber egal, er hatte ja nichts verraten. Andererseits – was konnte es eigentlich schaden, wenn er einfach alles erzählte? Dr. Burton würde immer noch nicht wissen, warum er wirklich hier war.
    »Was sollen Sie denn vergessen?«
    »Donal«, antwortete Jack langsam und überlegte kurz, ob er noch mehr sagen sollte. Vielleicht würde Dr. Burton ihn ja sogar unterstützen, wenn er ihm alles erklärte. »Der Rest der Familie denkt genau wie Gloria. Alle wollen Donal vergessen und ihn gehen lassen. Na ja, ich bin da einfach anderer Meinung, wissen Sie. Er ist immerhin mein Bruder. Aber Gloria sieht mich an, als wäre ich irre, wenn ich ihr das erklären will.«
    »Ist Ihr Bruder Donal gestorben?«
    »Nein, nein«, sagte Jack, als wäre das eine ganz absurde Idee. »Obwohl man es denken könnte. Er wird nur vermisst.
Nur
!« Er lachte ärgerlich und rieb sich müde das Gesicht. »Manchmal glaube ich, es wäre leichter, wenn er tot wäre.«
    Dr. Burton schwieg, wodurch Jack erneut unter Druck geriet, schnell etwas zu sagen. »Er ist letztes Jahr verschwunden, an seinem vierundzwanzigsten Geburtstag.« Er schlug sich mit der Faust in die offene Hand. Peng. »Er hat um 3:08 Freitagnacht noch Bargeld am Automaten in der Henry Street abgehoben …«, peng, »… ist um halb vier morgens auf dem Harvey’s Quay gesehen worden …«, peng, »… und danach war er verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Wie kann man so was denn vergessen? Wie kann man einfach weiterleben, wenn der eigene Bruder irgendwo da draußen ist? Wenn man nicht weiß, ob er vielleicht verletzt ist und Hilfe braucht? Wie zum Teufel soll da auf einmal wieder alles normal sein?« Jetzt hatte er sich richtig in Rage geredet. »Warum erwarten alle, dass ich sinnlose vierzig Stunden pro Woche schufte und blödes Zeug auf irgendwelche Schiffe verlade? Ich weiß ja nicht mal, was drin ist in den Kisten, die irgendwo in die Welt geschickt werden, wo ich noch nie war und wahrscheinlich auch nie sein werde! Warum ist das wichtiger, als meinen Bruder zu finden? Es ist mir unbegreiflich, wie man draußen rumlaufen kann, ohne sich jedes Mal nach allen Richtungen umzusehen und ihn zu suchen! Warum will mir das jeder mit den gleichen blöden Argumenten ausreden?«
    Seine Stimme wurde immer lauter. »Niemand hat was gesehen, niemand hat was gehört, niemand weiß irgendwas. In diesem Land leben fünf Millionen Menschen, davon 175 000 in Limerick und 55 000 in Limerick City. Warum hat nicht wenigstens einer davon meinen Bruder gesehen, irgendwo?« Atemlos hielt er inne. Er hatte Halsschmerzen, seine Augen waren voller Tränen, aber er wollte um jeden Preis verhindern, dass sie überflossen.
    Wieder schwieg Dr. Burton einfach. Er ließ Jack Zeit, sich zu sammeln und seine Gedanken zu sortieren. Unterdessen ging er zum Wasserbehälter und kam mit einem Plastikbecher für Jack zurück.
    Während Jack daran nippte, überlegte er laut: »Sie schläft sehr viel, wissen Sie. Meistens auch gerade dann, wenn ich sie brauche.«
    »Gloria?«
    Jack nickte.
    »Haben Sie Schlafstörungen?«
    »Mir geht so viel durch den Kopf, ich muss so viele Berichte lesen und überdenken. Und nicht nur die Berichte, die Sachen, die mir die Leute erzählen, lassen mir auch keine Ruhe, ich kann nicht abschalten. Ich muss Donal finden, das ist wie eine Sucht. Es frisst mich auf.«
    Dr. Burton nickte verständnisvoll. Nicht herablassend, wie Jack es sich vorgestellt hatte, er schien ihn wirklich zu verstehen. Es war, als hätte er Jacks Problem zu seinem eigenen gemacht, damit sie sich gemeinsam um eine Lösung kümmern konnten.
    »Sie sind nicht der Einzige, der sich nach einem traumatischen Erlebnis so fühlt, wissen Sie, Jack. Eigentlich ist das vollkommen normal. Hat man Ihnen nach dem Verschwinden Ihres Bruders geraten, sich an einen Psychotherapeuten zu wenden?«
    Jack

Weitere Kostenlose Bücher