Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
kleinen Schreinerei ihres Vaters in Wittenau. Im Krieg waren sie ausgebombt worden. Es faszinierte Krystyna, mit welcher Entschlossenheit diese Frauen darangegangen waren, die Trümmer zur Seite zu räumen und noch mal ganz von vorne anzufangen. Sie sind so gründlich, dachte sie dann. So eisern. Wie sie Kriege führen, so verlieren sie sie auch. Und fangen einfach von vorne an.
»Danke, Christina. Das ist sehr nett von Ihnen.«
Frau Schurmeister begrüßte ihre Freundinnen aus dem zweiten Stock. Alles Witwen, die nun zum zweiten Mal im Leben ganz alleine waren. Natürlich, sie hatten Kinder und Kindeskinder. An den Feiertagen war manchmal ganz schön Betrieb. Doch das Jahr bestand nicht nur aus Feiertagen. Es hatte viele Wochen, viele, viele lange, einsame Wochen.
Als die letzten Nachzügler eingetroffen waren, verließ Krystyna ihren Platz und ging von Tisch zu Tisch. Hier ein paar freundliche Worte, dort ein kleiner Scherz – vor allem die Herren wollten sich und den anderen beweisen, dass sie auch im hohen Alter noch galant sein konnten.
Krystyna wusste, dass ein Platz an diesem Tisch das Drei- bis Vierfache ihres Monatseinkommens kostete. Aber sie verdiente hier in Deutschland eben auch das Drei- bis Vierfache einer Altenpflegerin in Zielona Góra. Das Essen war viel besser, die Unterkunft ebenfalls, außerdem kamen die Trinkgelder hinzu für all die kleinen Geheimnisse. Einen Playboy für Herrn Neuner. Zigaretten für Frau Schurmeister. Schokokekse für … nein. Nicht daran denken.
Sie hob die Serviette auf, die einer Dame vom Schoß gefallen war, und besorgte ihr eine neue. Sie goss Wasser nach und ermahnte zum Trinken. Sie half mit, die Suppenteller abzuräumen, und überprüfte, ob die Schonkostmahlzeit auch bei dem betreffenden Adressaten ankam. Sie war kompetent und zurückhaltend, aufmerksam und hilfsbereit.
»Unser Engel«, flüsterte Frau Heckel ihr zu, als sie ihr das Fischbesteck neben den Teller legte. Die alte Frau tätschelte ihr die Hand.
Krystyna lächelte. Ihre Augen brannten noch von den Tränen, die sie um den alten Hagen geweint hatte. Dieser Mann, Vernau, hatte sie völlig durcheinandergebracht.
Helmfried Hagens Platz am dritten Fenstertisch war nicht lange leer geblieben. Nun saß ein ehemaliger Bundeswehrmajor dort. Kerzengerade, mit verkniffenem Mund, ungesellig und abweisend. Wahrscheinlich kam er nicht damit zurecht, von so vielen Damen umgeben zu sein. Drei saßen an seinem Tisch, und es würde nicht lange dauern, bis sie ihn aus seiner Zurückhaltung weg hin zu den Bridge- und Rommé-Abenden gelockt haben würden.
Sie schenkte Frau Heckel aus ihrer Flasche Riesling ein halbes Glas nach. Am Saalende wurden bereits die Teller des Hauptgerichts abgetragen. Als Dessert gab es heute Mousse au Chocolat.
Nicht daran denken. Bloß nicht.
Verstohlen blickte sie auf ihre Uhr. Als der Käsewagen hereingerollt wurde, nutzte sie den Moment und schlüpfte hinaus. Sie durchquerte die Haupthalle eilig, um beschäftigt zu wirken, denn sie wollte nicht angesprochen und schon gar nicht gesehen werden.
Unter der breiten Treppe befand sich der Kellereingang. Sie öffnete die Tür mit ihrem Generalschlüssel, sah sich noch einmal um und schlüpfte dann hindurch. Die kühle, erdige Luft ließ sie frösteln. Sie tastete nach dem Lichtschalter und lief die schmale Treppe hinunter. Zur Linken befand sich der Weinkeller. Darin konnten die Gäste des Hauses Emeritia ihre eigenen edlen Tropfen lagern. Sie überlegte, ob der alte Hagen dort noch ein Fach hatte. Vielleicht sollte sie das den Koch fragen, der gleichzeitig als Sommelier fungierte.
Sie wandte sich nach rechts, wo sich Stühle stapelten, ausgemusterte Sonnenliegenpolster, Christbaumständer, Pappkartons mit verstaubten Vorhängen und anderes im Moment nicht gebrauchtes Zeug. Sie lief an einem Regal vorbei, in dem hunderte Gläserkartons standen. Schließlich erreichte sie die Tür neben dem Sicherungskasten. Sie war ebenfalls abgeschlossen, ließ sich aber mit dem Generalschlüssel problemlos öffnen.
Krystynas Herz pochte, als sie den altmodischen Kippschalter umlegte und eine nackte Glückbirne an der niedrigen Decke aufflammte. Sie stand in einem ehemaligen Vorratskeller. Die Regale waren ordentlich gezimmert, die Wände mit ockerfarbenen Fliesen belegt, deren Glasur vom Alter mit Craquelé überzogen worden war. Auf den Regalböden standen, sorgfältig nebeneinander aufgereiht und beschriftet, graue, stabile Pappschachteln, denen
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