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Versunkene Gräber - Roman

Versunkene Gräber - Roman

Titel: Versunkene Gräber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Zuhause vorstellt. Als ich es gesehen habe, habe ich ihn verstanden. Mir hat nie etwas gehört. Kein Haus, keine Hütte, keine Wohnung. Aber er hat auf einmal von Wurzeln geredet. Das hat mir gefallen. Er hat sich über die Schallplatten gefreut wie ein Kind und gesagt, er würde seine Schulden in Wein abbezahlen. Wusstest du, dass er unter die Winzer gegangen ist?«
    »Jacek?« Bei ihm konnte ich mir viel vorstellen. »Hier?«
    »Hier. Rund um das Haus seines Vaters gab es früher mal Weinberge. Die bebaut er nun wieder. Er ist gut, dieser polnische Wein. Wirklich gut.«
    »Polnischer Wein?«, fragte ich ungläubig.
    »Das ist bei den meisten in Vergessenheit geraten. Die Gegend rund um Grünberg war mal ein bekanntes Weinanbaugebiet. Ein paar junge Winzer haben angefangen, die alte Tradition wiederaufleben zu lassen. Die meisten haben sich rund um Zielona Góra angesiedelt, Jaceks Weinberg liegt ein bisschen weiter nördlich, in seinem Heimatdorf. Wenn wir über diesen blöden Fluss hinüberkämen, könnten wir ihn uns ansehen.«
    »Das ist in der Nähe?«, fragte ich erstaunt. Bei Wein fielen mir immer nur Rhein, Neckar und Mosel ein. Bordeaux. Die Rhone. Das Wallis. Die Toskana und die Marken. Sicher nicht das schlesische Grünberg.
    »Na ja. Ich denke mal, eine knappe halbe Stunde Fahrt. Ach so, wir müssen ja wieder zurück, um zur Brücke zu kommen.«
    »Welche Brücke?«
    »Bei Landsberg, Gorzów Wielkopolski. Dann runter Richtung Zielona Góra, an der Oder …« Sie brach ab, griff sich an die Stirn. »Cigacice«, murmelte sie. Bevor ich fragen konnte, ob das ein polnischer Fluch war, erklärte sie: »Ein Fischerdorf. Nicht weit von … Janekpolana.«
    »Was hast du?«
    Sie stöhnte leise. »Ich habe einen Lkw auf der Straße angehalten. Unterwegs … ich habe wohl eine Gehirnerschütterung. Mir wurde schlecht. Ich dachte, er fährt nach Berlin, und bin eingeschlafen … oder ich war kurz weggetreten, keine Ahnung. Aber er ist in die falsche Richtung. Ein netter Kerl, er wollte weiter nach Weißrussland. Aber das wäre dann doch zu weit weg gewesen … Er hat mich in Posen am Krankenhaus abgesetzt, mehr weiß ich nicht mehr.«
    Eine Gehirnerschütterung konnte durchaus zu Amnesie führen. Meist nur vorübergehend, trotzdem wartete ich ungeduldig darauf, dass Marie-Luise sich an mehr erinnerte. Jacek wollte nicht reden, sie konnte nicht.
    Ich stand auf und half ihr hoch. Mit ihren zerzausten, verklebten Haaren, den Bandagen und Pflastern, dem kurzen Kleid und meiner viel zu großen Jacke sah sie unendlich verloren aus.
    »Vergiss die Weinberge. Wir fahren auf dem schnellsten Weg nach Berlin. Du musst untertauchen.«
    Während wir die Böschung hochkletterten, dachte sie nach. Schließlich fragte sie: »An welchen Ort hast du gedacht?«
    »Ich weiß es nicht. Bei mir suchen sie zuerst. Wahrscheinlich hat Vaasenburg auch schon einen Posten vor Mutters Tür gestellt. Kevin … ich weiß gar nicht, wo Kevin wohnt.«
    »In einer WG in Weissensee. Das will ich ihm nicht antun.«
    »Hast du sonst noch eine Idee?«
    Sie schüttelte langsam den Kopf und blickte auf ihre nackten, verletzten Füße. »Wenn ich den erwische, der mir meine Stiefel geklaut hat …«
    Wahrscheinlich waren sie schon längst auf dem Weg nach Minsk. Ich hielt ihr die Wagentür auf, sie wollte einsteigen, überlegte es sich dann aber anders.
    »Nicht nach Berlin.«
    »Warum denn nicht?«, fragte ich ungeduldig.
    Uns lief die Zeit davon. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen, bis dahin wollte ich über Küstrin oder Słubice auf sicherem Boden sein.
    »Ich weiß, wo ich sicher bin.«
    »Wo denn?«
    »Dort, wo sie mich garantiert nicht suchen werden.«
    »Und das wäre?«
    »In der Siedlung von Johannishagen. Oder, wie es hier heißt, der osada Janekpolana.«

11
    Die ersten Sonnenstrahlen überfluteten ein Land von überwältigender Schönheit. Dem Flusslauf der Oder folgten nicht enden wollende, dunkle Wälder. Sie wechselten sich ab mit sanften grünen Wiesen und weiten Feldern, in weiter Ferne, selten, sehr selten, die Spitze eines Kirchturmes. Wilde Einsamkeit, wohin das Auge sah.
    Janekpolana war ein kleines Dorf, kaum ein Dutzend Häuser drängten sich zwischen dem Ufer der Oder und dem Fuß einer kleinen Anhöhe aneinander. Den Hang entlang schraubten sich uralte Terrassen hinauf. In den verwitterten Stein krallten sich junge Bäume, die Natur hatte das Terrain längst zurückerobert. Das musste der Weinberg gewesen sein. Die

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