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Versunkene Gräber - Roman

Versunkene Gräber - Roman

Titel: Versunkene Gräber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Straße führte schnurgerade durch den Ort und machte hinter dem letzten Haus eine scharfe Biegung nach links. Jeder, der schneller als vierzig fuhr, würde unweigerlich im Fluss landen. Deshalb hatte man die Biegung vor langer Zeit mit einer niedrigen Felsensteinmauer bewehrt. Dahinter öffnete sich breit das Tal des Stroms. Uralte Bäume standen im Wasser, ihr Blätterdach neigte sich über der silbrig schimmernden Oberfläche. Wildgänse flatterten auf. Ich hielt an, um den Anblick zu genießen.
    Marie-Luise, die in einen kurzen Schlaf hinübergedämmert war, der sie mehr angestrengt haben musste, als dass er ihr Erholung verschafft hatte, blinzelte und folgte meinem Blick. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Die Sonne entlockte den Wellen zarte Nebelschleier, die sich über den sandigen Uferbänken auflösten. Der breite, ungezähmte Fluss bot einen Anblick wie am ersten Schöpfungstag. Die Welt hatte uns gerade ein Geschenk gemacht.
    »Schön, nicht wahr?« Sie räusperte sich, um ihre Kehle freizubekommen. »Das müsste man zum Welterbe ernennen.«
    Ich nickte und startete den Motor. Langsam fuhr ich die Straße weiter. Hinter der Biegung standen zwei Häuser. Ein größeres, in früheren Zeiten wahrscheinlich das Herrenhaus, und ein kleineres, vielleicht ein Verwaltungsgebäude. Das weitläufige, steinige Gelände deutete darauf hin, dass dieses Ensemble wohl einst zusammen errichtet worden war. Die osada . Die Siedlung von Janekpolana. Sie schmiegte sich an den Fuß des Weinberges, der nun hoch aufragte und zur Rechten steil abfiel. Die Hänge sahen bewirtschaftet aus. Zur Rechten verlor sich die einstmals gepflegte Anlage in wucherndem Gebüsch und hohen Bäumen.
    Ich parkte den Wagen auf dem großen Platz vor dem Haus und stieg aus. Alle Achtung. Wenn das Jacek gehörte, dann schien der Junge tatsächlich sein Glück gemacht zu haben.
    Es war nichts Besonderes, eigentlich. Es gab viele Häuser dieser Art im Umland von Berlin. Lange Zeit hatte die Gegend zur Mark Brandenburg gehört. Nun war sie Teil der Wojewodschaft Lebus, wie Marie-Luise mir erklärt hatte. Ein klassizistischer Bau, zwei Stockwerke hoch, mit kleinen Flügeln links und rechts des säulenverzierten Eingangs. Vielleicht war er in früheren Zeiten als Schule oder Kindergarten genutzt worden. Und lange davor als bescheidener Landsitz eines Gutsherrn. Geld hatte gefehlt, Geld und Farbe, und so war das Haus in einen desolaten Zustand geraten, der sich erst beim Nähertreten offenbarte. Trotzdem: Jemand hatte begonnen, sich darum zu kümmern. Auf der linken Seite zumindest waren die Fensterläden erneuert worden. Die Eingangstür war abgeschliffen, wenn auch noch nicht neu gestrichen oder versiegelt. Das Dach sah marode, aber sanierungsfähig aus. Ich wusste, dass die Zeit der Schnäppchen auch in Polen längst vorüber war. Vor mir lag ein kleiner Edelstein, der eigentlich nur aufpoliert werden musste.
    »Das ist Jaceks Haus?«
    Marie-Luise war ausgestiegen und neben mich getreten. »Ja. Das heißt, es wird ihm eines Tages gehören. Sein Vater lebt noch, Marek. Er ist zweiundachtzig und wohnt da drüben.« Sie wies mit der linken, noch immer bandagierten Hand auf das kleine Verwaltungsgebäude.
    Wie das Haupthaus war es aus Ziegeln erbaut, die anschließend glatt verputzt worden waren. Der Putz löste sich an einigen Stellen. Windschief und ein wenig geduckt schien es sich im Schatten des Gutshofes kleiner machen zu wollen. Unkraut und wilde Blumen wucherten ungehindert rund um die Mauern. In diesem Zustand bot es ein herzergreifend liebliches Bild. Eine Schubkarre, ein Leiterwagen, Gartenbaugeräte mit einfachen Holzgriffen standen oder lagen davor. Ein Anblick, bei dem Stylisten modischer Landliebe-Magazine wahrscheinlich vor Freude gejauchzt hätten.
    Ich bemerkte die erbrochenen Siegel der polnischen Polizei an beiden Eingangstüren, am großen wie am kleinen Haus. Wahrscheinlich hatten sie auch die Kapelle durchsucht, dort aber kein Siegel hinterlassen.
    Langsam stieg Marie-Luise die Steinstufen empor und drückte vorsichtig die Klinke hinunter. Die Tür war nicht abgeschlossen.
    »Stój!« Der Ruf hallte über den Hof.
    Erschrocken fuhr ich zusammen und drehte mich um. Ein alter Mann kam, einen Rechen drohend erhoben, auf uns zu. Er hinkte und schien nicht bei Kräften zu sein, was seiner drohenden Geste etwas Rührendes verlieh.
    »Marek! Leg das Ding weg. Ich bin es, Marie-Luise!«
    Der Mann, dünn und gebeugt wie ein

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