Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
mit den Zeit-Sprüngen, die man bei der Überschreitung von bestimmten Landesgrenzen zu bewältigen hat, so intensiv beschäftigt wie der amerikanische |162| Sozialpsychologe Robert Levine. In seinem Buch
Eine Landkarte der Zeit
schreibt er: »Die Anpassung an ein fremdes Tempo kann ebenso viele Schwierigkeiten machen wie das Erlernen einer fremden Sprache. In einer besonders aussagekräftigen Untersuchung über die Ursachen des Kulturschocks baten die Soziologen James Spradley und Mark Phillips eine Gruppe von Freiwilligen des Peace Corps nach ihrer Rückkehr, 33 Problempunkte danach zu ordnen, welchen Aufwand an kultureller Anpassung sie ihnen abverlangt hätten. Auf der Liste standen viele Punkte, die jedem von Reisewahn befallenen vertraut sind, wie etwa ›die Art des Essens‹, ›die persönliche Sauberkeit der meisten Menschen‹ und ›der allgemeine Lebensstandard‹. Doch abgesehen von der fremden Sprache hatten die Freiwilligen vor allem Schwierigkeiten mit der sozialen Zeit.«
Levine wollte herausfinden, ob sich verschiedene Kulturen tatsächlich durch ihren Umgang mit der Zeit so stark voneinander unterscheiden, wie es der Fremde wahrnimmt. Zu diesem Zweck ließ er Mitte der neunziger Jahre in 31 Ländern der Erde Messungen zur Gehgeschwindigkeit der Menschen sowie zu ihrer Schnelligkeit am Arbeitsplatz vornehmen. Zusätzlich wählte er 15 Uhren in wichtigen Geschäftsvierteln dieser Länder und verglich, wie genau sie gingen.
Entstanden ist dabei eine Länderliste, auf der die Schweiz den ersten Platz ergatterte, dicht gefolgt von Irland und – zu meiner Beruhigung – erst an dritter Stelle: Deutschland. Es ist also mit der Raseritis hierzulande im Vergleich zu anderen Ländern doch noch nicht so schlimm. Auf den letzten drei Plätzen landeten Brasilien, Indonesien und Mexiko.
|163| Um die Schrittgeschwindigkeit herauszufinden, stoppte Levine mit seinen Helfern in jedem der Länder die Zeit, die 35 zufällig ausgewählte Einzelpersonen für einen Gehweg von 20 Metern brauchten. Die Messungen wurden an hellen Sommertagen während der Hauptgeschäftszeiten an zwei verschiedenen Ladenstraßen der Innenstadt vorgenommen, die Gehsteige waren breit und leer genug, dass die Fußgänger in ihrer bevorzugten Höchstgeschwindigkeit gehen konnten. Die ausgewählten Menschen, Männer wie Frauen, hatten keinerlei erkennbare körperliche Einschränkung und machten auch offensichtlich keinen Schaufensterbummel.
Das landesübliche Arbeitstempo prüfte er, indem er in der Post eine einzelne Briefmarke kaufte und dem Beamten zwecks Bezahlung einen größeren Geldschein vorlegte. Die Zeit, die der Beamte brauchte, um die Marke und das entsprechende Wechselgeld herauszugeben, war der Parameter dafür, wie Menschen ihre Zeit in diesem Land nutzen. Die Pünktlichkeit der Uhren schließlich war der Indikator dafür, wie die Bewohner der entsprechenden Länder Zeit begreifen und messen. Die drei jeweiligen Ergebnisse fasste er in einer Statistik zusammen und verglich sie mit den Werten der anderen Länder.
Besonders amüsant an dem Experiment ist Levines Erklärung, was ihn dazu motivierte. Er erzählt von seiner Gastprofessur in der brasilianischen Universitätsstadt Niterói, die ihn an den Rand der Verzweiflung brachte, weil das dort herrschende Lebenstempo seinem Wesen derart extrem widersprach. Zuerst musste er zur Kenntnis nehmen, dass kaum eine der Uhren des Landes richtig ging. Korrekte Uhrzeit schien den Brasilianern völlig gleichgültig zu sein. Dann stellte er fest, dass man in diesem Land |164| prinzipiell unpünktlich ist. Zu seinen Seminaren kamen viele Studenten zu spät, manche nach der Hälfte der Zeit und einige sogar erst kurz vor Ende der Veranstaltung. Keiner deutete durch eiliges Auftreten an, er habe es für nötig befunden, sich zu sputen, im Gegenteil: »Alle Nachzügler hatten ein entspanntes Lächeln auf den Lippen, an dem ich mich später freuen lernte. Alle begrüßten mich, und obwohl sich einige knapp entschuldigten, schien keiner ein übermäßig schlechtes Gewissen zu haben, weil er zu spät kam. Sie gingen davon aus, dass ich Verständnis dafür hatte.«
Schließlich muss sich Levine in den nächsten Wochen daran gewöhnen, dass auch von ihm selbst keinerlei Pünktlichkeit erwartet wurde. Bei einer Verabredung mit seiner Chefin, zu der er selbstverständlich rechtzeitig erschienen war, fand er ihr Büro nicht einmal besetzt. Eine halbe Stunde später tauchte immerhin die Sekretärin
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